Frau Pastorin Dr. Vollmer: Wir müssen annehmen, daß Sie sich auf die Seite der Täter geschlagen haben

Der Ärger ist groß. Und darum hat die „Freie Arbeitsgruppe JHH 2006“ einen weiteren Brief an die Vorsitzende des „Runden Tisches Heimkinder“, Antje Vollmer, geschrieben.

Die Arbeitsgruppe vertritt ehemalige behinderte Kleinkinder, Schülerinnen und Schüler. Sie lebten in den drei Nachkriegsjahren im Johanna-Helenen-Heim (JHH), einem Schul- und Kinderheim in Volmarstein bei Hagen. Dort wurden sie Opfer von brutalster psychischer, physischer und sexueller Gewalt. Schon vor der Einrichtung des Runden Tisches bemühte sich die Gruppe um einen Sitz, damit überhaupt behinderte Opfer dort Gehör finden. In einem Schreiben wurde dieses Ansinnen abgelehnt: „Mit der Problematik der Behindertenhilfe sprechen Sie ein wichtiges und sensibles Thema an. Der Deutsche Bundestag hat den Runden Tisch „Heimerziehung in den 50er und 60er Jahren“ mit der Aufarbeitung der Jugendhilfepraxis ... beauftragt. Daher wird sich der Runde Tisch ausschließlich mit der damaligen Heimerziehung … befassen können.“ Dazu der Gruppensprecher Helmut Jacob: „Weder der Petitionsausschuß, noch der Bundestag hat diese Einschränkung vorgesehen. Es handelt sich um einen reinen Willkürakt der Vorsitzenden“. Jacob weiter: „Wahrscheinlich will man das wahre Ausmaß der Verbrechen, dazu an den Hilflosesten der Gesellschaft, nun doch nicht wissen; die Öffentlichkeit würde zu sehr protestieren.“

Der Zwischenbericht des Runden Tisches zu Beginn des Jahres „ist eine Enttäuschung von A bis Z“, so Jacob, „er liest sich positiv, aber Prof. Kappeler hat uns die Augen geöffnet.“ Tatsächlich hat der Sozialwissenschaftler Manfred Kappeler diesen Zwischenbericht analysiert und festgestellt, daß unterm Strich dieses erste Jahr des Runden Tisches wenig für die geschätzten 500 bis 800tausend Heimopfer gebracht hat. So versucht die Tischvorsitzende Vollmer, den Begriff „Zwangsarbeit“ umzudefinieren und die Gewalt als missbräuchliche Erziehungsmethoden, Fehlleistungen in schwierigen Umständen der damaligen Zeit, in der Züchtigung noch als anerkanntes Erziehungsmittel galt, zu relativieren.

Der Brief der Freien Arbeitsgruppe JHH im Wortlaut:

Frau
Dr. Antje Vollmer
Vorsitzende des Runden Tisches Heimerziehung

Ihr Interview in „Deutschland-Radio Kultur“ mit Herrn Stefan Karkowski.

Sehr geehrte Frau Dr. Vollmer,

das genannte Interview hat uns sehr erschrocken!

Wieder einmal verweigern Sie die Anerkennung von Zwangsarbeit durch Heimopfer in den 4 Nachkriegsjahrzehnten. Sie zitieren aus Ihrem Zwischenbericht des Runden Tisches: “Und darin haben wir gesagt, daß wir uns den Begriff Zwangsarbeit in dem historisch geprägten Sinn, wie er in der Nazizeit war, nämlich Vernichtung von Menschenexistenzen durch Arbeit, und das zum Zweck optimaler Gewinnausschöpfung, wie das bei den großen Konzernen, die Hitler unterstützt haben, der Fall war, daß das auf diesen Fall nicht zutrifft.“

Inzwischen müßten die zahlreichen Belehrungen, die Aussagen, daß Ihre Meinung und Interpretation des Begriffes Zwangsarbeit völlig absurd ist, auch zu Ihnen gedrungen sein. So hat Professor Manfred Kappeler beispielsweise festgestellt, daß nur zu einem kleinen Teil im Rahmen der Zwangsarbeit während der NS-Zeit auch die Vernichtung von Menschenleben stattgefunden hat.

Im übrigen verbitten wir uns die Definition des Begriffes „Zwangsarbeit“ nach eigenem Geschmack. Dieser Begriff ist in Wörterbüchern und im Brockhaus ganz klar definiert: „Im Allgemeinen jede Art von Arbeit oder Dienstleistung, die von einer Person unter Androhung irgendeiner Strafe verlangt wird und für die sie sich nicht freiwillig zur Verfügung gestellt hat.“ Auch das Grundgesetzt, Artikel 12, hat Ihre Begriffsverbiegung nicht aufgenommen.

Wir verbitten uns ferner jeden Vergleich jüdischer Zwangsarbeiter mit Heimopfern. In unserem Bereich mußte ein 7jähriges behindertes Kind jeden morgen 23 Nachttöpfe in einen großen Topf entleeren, den großen Eimer, den sie kaum tragen konnte, zur Toilette bringen und diesen dort ausschütten. Das geschah täglich unter Strafandrohung und auch unter Schlägen, vor allen Dingen unter psychischer Bedrohung. Dies geschah vor dem Aufstehen ihrer Mitschülerinnen und bevor sie auch nur eine Scheibe Brot zu essen bekam. Dies ist Zwangsarbeit unter schlimmsten Bedingungen.

Ihr Versuch der Umdeutung des Begriffes stellt eine weitere Mißhandlung der Heimopfer dar. Sie dient einzig und allein Ihrem Ansinnen, die Verbrechen an den Heimkindern und Jugendlichen zu relativieren. Dieses lassen wir Ihnen selbstverständlich nicht durchgehen.

In dem genannten Interview betonen Sie besonders, daß Sie als Moderatorin und nicht als Vorsitzende bezeichnet werden wollen. Die Unabhängigkeit einer Moderatorin haben Sie längst abgestreift. Das haben Sie in zahlreichen öffentlichen Verlautbarungen, Ihrem Zwischenbericht, der übrigens nicht einstimmig zu Stande gekommen ist, und auch in der Pressekonferenz zum Zwischenbericht eindeutig klargestellt.

Auch ihre Äußerungen zur möglichen finanziellen Entschädigung setzen eindeutig eine Begrenzung in der Höhe der Leistung fest. Sie wollen, daß diese Entschädigung in keinem Fall über der Entschädigung an Zwangsarbeitern liegt. Ihre Vorgabe hat mit Neutralität überhaupt nichts zu tun. Sie betreiben Politik zu Lasten der Heimopfer.

Dabei verschweigen Sie sogar wissentlich, daß der ehemalige Opferanwalt Witti für einzelne Gruppen dieser Zwangsarbeiter sowohl monatliche Renten, als auch höhere Pauschalentschädigungen erstritten hat. Konkret äußert sich Witti zu diesem Thema (in seinem Schreiben vom 11. 9.2009 an die Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“):

„Die von mir vertretenen jüdischen Mandanten – eine knapp mehr als sechsstellige jüdische Gemeinde – erhielten eine Einmalzahlung von DM 15000.–
Sie erinnern sich, daß damals von Ihrer Regierungspartei auch deshalb Widerstand für höhere Zahlungen ausging, weil Ihre Partei Vortrug, dass meine Mandantschaft grösstenteils bereits für den Zeitraum der Zwangsarbeit laufende Rentenleistungen nach dem BEG erhielt.
Gleichwohl – und auch das unterdrücken Sie – ist es uns gelungen im Schatten der Zwangsarbeiterverhandlungen ein Ghettorentengesetz – ZRBG – auf den Weg zu bringen. Ich erinnere mich noch gut, wie ich Sonderbotschafter Bindenagel diesbezüglich zuarbeitete. Es gelang substantielle Zahlungen an meine Mandantschaft, quasi ausserhalb des öffentlichen Bewusstseins durchzusetzen.
Ergebnis war jedenfalls, daß unmittelbar nach den NS-Zwangsarbeiterverhandlungen meine Mandantschaft eine monatliche Rente zwischen 200 und 500 EUR und Einmalzahlungen zwischen 10000 bis 30000 EUR erhielt und zwar auch als Witwe/Witwer.
Berücksichtigt wurde hier – als Zuerkennungskriterium – ausdrücklich der Zeitraum der Zwangsarbeit !! ...
Meine Mandantschaft erhielt im Zuge des Gesamtkomplexes:
DM 15000.– plus nun EURO 10000.– bis 30000.– plus monatliche Rente von 200.– bis 400.– EUR“

Sie wurden über diesen Sachverhalt informiert, haben ihn aber nicht in Ihren Zwischenbericht aufgenommen. Dies ist eine Manipulation der Meinungsbildung zugunsten der Täter und zulasten der Verbrechensopfer.

Wir teilen ausdrücklich mit, daß wir zu der Kritik von Professor Dr. Manfred Kappeler stehen, sie voll übernehmen. Sie ist Ihnen bekannt. Die Stellungnahme von Kappeler heißt: Zwischen den Zeilen gelesen - Kritik des „Zwischenberichts“ des „Runden Tisches“ Heimerziehung.

Der Runde Tisch hat umsonst getagt. Die Erkenntnisse, die dort gewonnen wurden, sind bereits in zahlreichen Büchern erschienen. Es ist nichts Neues hinzugekommen. Das war ein verlorenes Jahr für die Aufarbeitung und für die Heimkinder. In dieser Zeit sind etliche tausend Heimopfer gestorben. Wir können uns des Eindrucks nicht erwehren, daß genau dies Absicht ist.

Ansonsten wären Sie bereits nach der zweiten Sitzung, in der Sie Professor Dr. Kappeler nach seinen Forschungen hätten befragen können, auf die Frage der Entschädigung eingegangen. Selbst dafür hat der wirkliche Opfervertreter, der Theologe und Psychologe Dierk Schäfer - den Sie zu unserer Erschütterung als Opfervertreter abgelehnt haben - „Verfahrensvorschläge zum Umgang mit den derzeit diskutierten Vorkommnissen in Kinderheimen in der Nachkriegszeit in Deutschland“ unterbreitet

In dem Interview merken Sie an: „Wir haben trotzdem, und zwar nicht ich, sondern einstimmig der gesamte Runde Tisch, das heißt in einer Diskussion von mehr als 48 Stunden, Wort für Wort und Seite für Seite von diesem Bericht abgestimmt.“ Nicht zuletzt die Pressekonferenz zum Zwischenbericht Ihres Tisches beweist genau das Gegenteil: Die Opfer kommen kaum zu Wort. Ihr radikaler Ausschluß weiterer Heimopfer des VEH, der den drei Vertretern längst das Vertrauen entzogen hat, belegt, daß die Opferseite kaum Gehör findet. Auch die brüske Abweisung behinderter Heimopfer sehen wir als Wunsch, die Zahl der Heimopfer gering zu halten und die Verbrechen an behinderten Kleinkindern und Schulkindern unter den Teppich zu kehren. Weder Bundestag noch Petitionsausschuß haben uns ausgeschlossen. Sie haben willkürlich und eigenmächtig gehandelt.

Frau Pastorin Dr. Vollmer: Wir müssen annehmen, daß Sie sich auf die Seite der Täter geschlagen haben.

Ihren Endbericht warten wir nicht mehr ab, weil wir schon heute wissen, daß er eine weitere Verhöhnung und Demütigung der Opfer darstellen wird.

Hochachtungsvoll
(Helmut Jacob)
Sprecher

23. April 2010

Quellen:

Homepage der „Freien Arbeitsgruppe JHH 2006“: http://www.gewalt-im-jhh.de/
Brief im Original: http://www.gewalt-im-jhh.de/Vollmer_wg_Zwangsarbeit_Endf_230410.pdf
Interview: http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/thema/1163962/
Interview Ton: http://www.dradio.de/aodflash/player.php?station=3&broadcast=348687&datu...
http://www.gewalt-im-jhh.de/witti_entschadigung_ns-zwangsarbeiter_110909...
Film Zwischenbericht Runder Tisch
Teil 1: http://de.sevenload.com/sendungen/Top-TV-im-OKB/folgen/iC47wnY-Zwischenb...
Teil 2: http://de.sevenload.com/sendungen/Top-TV-im-OKB/folgen/UM0RAot-Zwischenb...
Prof. Dr. Manfred Kappeler: „Zwischen den Zeilen gelesen – Kritik des „Zwischenberichts“ des Runden Tisches Heimerziehung.“: http://www.gewalt-im-jhh.de/Kappeler_zu_ZB_RTH.pdf
Schäfer: Verfahrensvorschläge http://www.gewalt-im-jhh.de/verfahrensvorschlage-rt2.pdf


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Frau Pastorin Dr. Vollmer...

Dieser Artikel und der Brief treffen den Nagel voll auf den Kopf - man könnte es nicht besser ausdrücken! Was Frau Vollmer (eigenmächtig oder mit Zustimmung des "Rest-Runden Tisches") abzieht, ist absolut skandalös, höchst unmoralisch und widerwärtig. Es ist ein einziger Betrug an allen Opfern deutscher Heimerziehung. Und es ist eine doppelte und dreifache Verhöhnung besonders für Kinder mit Behinderungen, welche - und das ist nunmal eine bekannte Tatsache, Frau Pastorin! - nicht nur ebenso wie andere Heimkinder auch misshandelt, missbraucht, zur Arbeit gezwungen, verhöhnt und gedemütigt wurden, sondern die obendrein noch weniger Möglichkeiten hatten, sich zur Wehr zu setzen.

Der bloße Gedanke an diese Kinder sollte Frau Vollmer die Schamesröte ins Gesicht und die Tränen in die Augen treiben!

Es ist schlicht und einfach unfassbar, was da geschieht! Es ist auch unfassbar, dass sich Frau Vollmer überhaupt traut, mit dem Brustton der Überzeugung zu behaupten, dass der skandalöse Zwischenbericht Wort für Wort, Seite für Seite auf Konsenz abgestimmt wurde. Denn das macht den Bericht nicht besser, sondern höchstens die Arbeitsweise der Teilnehmer skandalöser - ja nachgerade zynisch! Aber dazu kommt noch, dass das nicht einmal der Wahrheit entspricht. Denn die einzige "Vertreterin" der Heimkinder, die immerhin sich noch traute, überhaupt den Mund aufzumachen, sagte sehr deutlich, dass zumindest SIE NICHT einverstanden sei mit dem Bericht!