Heidi Dettinger: "Geschlossene Heime sind einfach nur falsch!"

Im Rahmen meiner Arbeit in der "Freien Arbeitsgruppe JHH 2006", eine 9-köpfige Opferinitiative behinderter Kleinkinder und Kinder in Volmarstein, bin ich schriftlich oder virtuell einigen interessanten Persönlichkeiten begegnet. Heidi Dettinger vom "Verein ehemaliger Heimkinder e. V." hat an der Demonstration gegen die Verleihung der Hans-Ehrenberg-Plakette in Bochum teilgenommen. Eine meiner Assistentinnen interviewte sie per Filmkamera. Jetzt ist es endlich Zeit, diese Persönlichkeit vorzustellen.

Heidi Dettinger, Sie gehören zum „Verein ehemaliger Heimkinder e.V.“ (VeH). Was trieb Sie dorthin?
Ich bin selber ehemaliges Heimkind mit Jahrzehnte langer Verdrängungsgeschichte. Aber das klappt offensichtlich nicht ein ganzes Leben lang und als ich anfing, mich mit diesem Teil meiner Geschichte auseinander zu setzen, brauchte ich dringend Verbündete. Nach einiger Sucherei fand ich dann den Verein.
Was ist das eigentlich für ein Verein und wofür steht er?
Wir sind ein selbstorganisierter Zusammenschluss von Ehemaligen. Unser Ziel ist Hilfen zur Selbsthilfe anzubieten, uns gegenseitig zu unterstützen und darüber hinaus den Betroffenen eine Plattform zu bieten, um über ihre Heimgeschichten zu reden, sie an die Öffentlichkeit zu tragen und in dem uns möglichen Umfange politische Arbeit zu leisten.
Welche Tätigkeiten haben Sie in diesen Verein bisher ausgeübt und als was sind Sie jetzt im Vorstand?
Ich bin seit Jahren im Vorstand, war anfangs Schriftführerin, wurde nach einiger Zeit zur zweiten Vorsitzenden gewählt und vor ca. eineinhalb Jahren zur ersten Vorsitzenden.
Im Internet wird kolpotiert, dass ein Kassenwart vor längerer Zeit mit der Kasse durchgebrannt sei. Stimmt das und hat es Ihrem Verein geschadet?
Leider hat das Internet hier mal (fast) Recht. Es war nicht der Kassenwart, sondern der Vorstandsvorsitzende damals. Der Verein hatte Geld von der „Aktion Mensch“ für die Einrichtung eines Büros bekommen, dieses Geld hat der damalige Vorsitzende dann irgendwie auf sein Privatkonto verschoben und ward nicht mehr gesehen. Unsere Versuche, dieses Geld von ihm zurück zu bekommen verliefen im Sande und vor zwei Jahren mussten wir dann auch noch das Geld an die „Aktion Mensch“ zurück zahlen, da wir natürlich keinen Nachweis darüber führen konnten, dass wir das Geld bestimmungsgemäß verwendet hätten. Das ist eine bittere Geschichte und hat uns finanziell ziemlich in die Bredouille gebracht. Aber wie gesagt: Es ist Geschichte!
Auf Ihrer Agenda stehen auch immer wieder die damals zwangsweise in die Psychiatrie Eingewiesenen und die behinderten Heimopfer. Was bewegt Ihr Verein und Sie zu dieser Unterstützung der beiden Gruppen?
Dafür gibt es verschiedene Gründe.
1. Es leuchtet mir nicht wirklich ein, wieso überhaupt so ein Unterschied zwischen psychiatrisierten, behinderten und „anderen“ Heimopfern gemacht wird. In meinem Weltbild sind alle Menschen nämlich gleich. Punkt.
2. Natürlich ist mir klar, dass – wenn schon ein Gefälle – dieses deutlich zugunsten von Heimkindern mit Behinderungen ausfallen müsste, da diese noch ausgelieferter sind und ihr Lebensaufwand im Alter mit Sicherheit höher liegt, als der von Nicht-Behinderten.
3. Aus den beiden Punkten ergibt sich, dass das, was da geschehen ist bzw. immer noch geschieht, ein schreiendes Ungerecht ist, unserer Verfassung zuwider läuft und einfach entsetzlich beschämend ist.
Ich habe bislang mit keinem einzigen Vereinsmitglied gesprochen, der oder die das anders sieht.

Um den VeH werden viele Geheimnisse gesponnen. Weil nicht alle dem VeH grün sind. Verraten Sie uns beispielsweise die ungefähre Mitgliederzahl? Die "Freie Arbeitsgruppe JHH 2006" besteht aus 9 Mitgliedern.

Ich kann Ihnen gern die genaue Mitgliederzahl nennen, die ist nämlich überhaupt kein Geheimnis. Der Verein hat zur Zeit 428 Mitglieder, von denen 352 aktiv sind. 2016 haben wir 13 neue Mitglieder begrüßen können, wir hatten einen Todesfall und keine Austritte.

Was hat der VeH falsch gemacht; würde er heute so nicht mehr tun?

Dazu kann ich Ihnen natürlich nur meine ganz private Meinung sagen... Ich glaube, der Verein war immer ein Stückchen zu brav, zu sehr auf Wohlverhalten bedacht. Manchmal kommt man mit einer gehörigen Portion Provokation weiter – erregt zumindest mehr Aufmerksamkeit. Das muss man natürlich immer genau abwägen, um nicht abzurutschen... Aber da sehe ich bei uns keine wirkliche Gefahr.

Ihre Meinungsdarstellung ist sehr klar und direkt. Machen Sie sich dadurch Feinde? Überwiegt die Zahl der Sympathisanten?

Nun ja. Ich liebe Sprache und bin der Überzeugung, dass dieses Instrument dazu dienen sollte, Klarheit zu schaffen. Sicher gibt es Leute, die mir nicht gerade wohl gesonnen sind, die sich brüskiert fühlen durch mich. Wäre das nicht der Fall würde ich fast denken, ich hätte etwas falsch gemacht. Es gab allerdings ein paar Vorfälle, die mir auch sehr nahe gegangen sind. Da wurde ich so ziemlich eklig quer durch das Internet verleumdet und verunglimpft. Aber im Allgemeinen würde ich schon sagen, dass die Zahl der SympathisantInnen überwiegt. Obwohl – vielleicht wünsche ich mir das auch nur, denn natürlich kenne ich weder alle negativen noch alle positiven Meinungen über mich.

Anlässlich der Verleihung des Hans-Ehrenberg-Preises an die damalige Vorsitzende des „Runden Tisches Heimerziehung“, Antje Vollmer, haben Sie auch demonstriert. Was haben Sie erreicht? Kamen die Demonstranten zu Wort und in welcher Form?

Ich fand das eine richtig gute Aktion. Natürlich haben wir nicht erreicht, dass Frau Vollmer der Preis nicht zugestanden bekam, aber wir haben uns sehr deutlich bemerkbar gemacht und ließen uns auch nicht vertreiben aus der Kirche – obwohl dem verantwortlichen Pastor das wohl sehr Recht gewesen wäre.
Zu Wort kamen wir einmal sehr laut, sehr mutig, sehr ausdrucksstark dadurch, dass ein Vereinsmitglied sich vor der Bühne, vor Frau Vollmer aufbaute und den Anwesenden sehr deutlich machte, was „Heim“ und das Leben mit all den Demütigungen, Schmerzen, Narben eigentlich heißt. Sie erzählte ihre eigene Geschichte und man hätte eine Stecknadel zu Boden fallen hören können, so still wurde es in dem großen Raum. Ich glaube nicht, dass auch nur eineR der BesucherInnen unberührt blieb.
Nach der Veranstaltung verschwand Frau Vollmer durch einen Hinterausgang und die Demonstrierenden blieben noch lange und diskutierten lebhaft mit den BesucherInnen.

Ihr Eindruck über Ingrid Matthäus-Meier?

Ich fand es eindrucksvoll, dass Frau Matthäus-Meier sich auf der von uns organisierten Pressekonferenz (der Gegenpresseveranstaltung zu der von A. Vollmer zur Veröffentlichung des Abschlussberichtes „Runder Tisch Heimerziehung“ einberufenen) sehr deutlich auf unsere Seite geschlagen hat. Leider war mit dieser einen Veranstaltung der Kontakt zu ihr dann auch beendet. Ich bin mir nicht sicher, ob es an uns lag und daran, dass wir unfähig waren, ihr Interesse an uns und unserer Arbeit wach zu halten oder doch an ihrem Mangel an Interesse oder vielleicht einfach an ihrer Arbeitsüberlastung.

Wie schätzen Sie die Arbeit von Antje Vollmer ein?

Frau Vollmer war genau die richtige Frau am richtigen Platz. Sie hatte von allem etwas: Als ehemalige Vizepräsidentin hatte sie den Respekt auch der konservativen Parteien, als Grüne hat sie die einzigen aus der Politik, die sich für die Heimerziehung explizit interessiert hatten, neutralisiert und als Theologin war sie auch für die Kirchen die richtige Ansprechpartnerin.
Sie hat es verstanden, den Runden Tisch Heimerziehung zu einer Veranstaltung zu machen, in der es im Prinzip um zwei Dinge ging:
1. Gesicht wahren
2. Geld sparen.
Das hat sie hervorragend geschafft. Dass das für uns als Heimkinder ein Schlag ins Wasser war, hat sie wissentlich angestrebt oder doch zumindest billigend in Kauf genommen. Denn natürlich war es nicht ihre Aufgabe, unsere Bedürfnisse zu befriedigen, sondern die der anderen Parteien.

Ihre Meinung über den „Runden Tisch Heimerziehung“.

Es wurde sehr schnell deutlich, dass der Runde Tisch Heimerziehung ein riesiger Betrug an ehemaligen Heimkindern war. Das kann man an verschiedenen Punkten ganz deutlich sehen:
1. Die Ehemaligen waren in deutlicher Minderheit den anderen TeilnehmerInnen gegenüber;
2. Es wurde ihnen verwehrt, eine eigene anwaltliche Vertretung bzw. Beratung dabei zu haben;
3. psychische, physische und sexuelle Gewalt in den Heimen waren für den RTH weder systematisch noch systembedingt, sie kamen einfach häufig vor, waren irgendwie bedauerlich aber auch erklärlich (zu wenig überlastetes Personal, schlechte Zeiten im allgemeinen, autoritärer Erziehungsstil etc. pp);
4. das Thema „Zwangsarbeit“ wurde in „Zwang zur Arbeit“ mit pädagogischem Hintergrund umdefiniert;
5. sexuelle Gewalt (oder „Missbrauch“, wie das lieber genannt wird) wurden kaum beachtet und bei erster Gelegenheit an den RT Sexueller Missbrauch verwiesen;
6. Arzneimittelmissbrauch wurde kaum diskutiert und auch im Abschlussbericht lediglich lapidar mit ein paar Sätzen und einigen Konjunktiven bedacht.
Das schlug sich dann auch nieder in den Geldern, die die Überlebenden deutscher Heimerziehung beantragen konnten: 10.000 Euro Sachleistungen (was die meisten der Ehemaligen, die ich gesprochen und beraten habe, als kaum zumutbare Demütigung empfanden!) und einer Einmalzahlung von 300 Euro pro gearbeiteten Monat nach dem vollendeten 14. und bis zum 21. Lebensjahr als Rentenersatzleistung.
Nicht berücksichtigt wurden hierbei die unterschlagenen Löhne und besonders auch die Kinderarbeit. Auch nicht berücksichtigt wurden die Zeiten, die in den Heimen nach 1975 gearbeitet wurde. Und: diejenigen, die Gelder aus dem Fonds Heimerziehung erhalten hatten, haben keinen Anspruch mehr auf Geld aus dem Fonds Sexueller Kindesmissbrauch. Für ehemalige Heimkinder gilt also: Vergewaltigt wurde in den Heimen nicht.
Dass sich jetzt für die psychiatrisierten und behinderten Heimkinder ein noch schlechteres Bild ergibt, liegt genau mit an der Arbeitsweise des Runden Tisch Heimerziehung!

Wieviel Zeit verbringen Sie jeweils mit dem Vereinsleben und mit Ihrer Familie?

Meine Familie wohnt nicht in Deutschland, somit beschränkt sich meine Zeit mit ihr auf Telefonate, Skypegespräche und die Sommerferien meiner Enkelin. Das ist zeitmäßig recht beschränkt.
Die Vereinsarbeit verläuft in Wellen – während der Zeit des RTH und besonders der Zeit der Antragstellung konnte es schon leicht passieren, dass ich 10 Stunden oder auch mehr am Tag für den Verein eingespannt war. Das hat sich jetzt beruhigt. Ich würde schätzen, dass ich täglich 5 – 7 Stunden am Rechner und am Telefon für den Verein tätig bin.

Eine Antriebsfeder für das eigene Engagement ist laut Aussage eines Interviewpartners seine Tochter, die dem Vater vorhält: Wer macht es denn sonst? Woher beziehen Sie Kraft für Ihre ehrenamtliche Vereinsarbeit?

Ich habe trotz eines recht miesen Einstiegs in mein Leben viel Glück gehabt! Ich habe einen Mann geheiratet, mit dem ich raus aus diesem Land kam – die Ehe hat nicht sonderlich lange gedauert, aber ich habe weite Teile der USA kennengelernt und wir haben uns schließlich freundschaftlich getrennt und - ich habe einen tollen Sohn mitgebracht. Nach einigen Umwegen, einer weiteren Sprache und weiteren Kindern bin ich schließlich zurück nach Deutschland gekommen, habe hier schnell Anschluss gefunden, mein Abi nachgemacht und studiert. Das hat mir zwar keine Reichtümer eingebracht aber doch viel Wissen und Können, dass ich nur allzu gerne mit anderen teile. Ich glaube, dass ist mein größter Antrieb: Ich will das, was ich mir aneignen konnte, mit anderen teilen, die dieses Glück nicht hatten.
Kraft schöpfe ich beim Radfahren oder Spazierengehen mit den Hunden. Ich genieße das sehr und und liebe es zum Beispiel, die Nacht durchzuarbeiten und dann beim ersten Morgenlicht mit dem Hund rauszugehen und den unglaublichen Lärm wahrzunehmen, den die Vögel im Frühjahr machen. Das bringt mich immer wieder zum Lachen. Außerdem habe ich einen großen und interessanten Freundeskreis.

Wie denken Sie heute über Erziehungsheime angesichts zunehmender, maßloser, grundloser und oft brutalster Gewalt in der Öffentlichkeit? Sollten neue geschaffen werden?

Geschlossene Heime sind einfach nur falsch! Es gibt sicherlich manchmal Gründe, ein Kind aus dem Elternhaus zu nehmen – in der Regel aber sollte eher den Familien qualifiziert geholfen werden, in denen Probleme herrschen.
Kinder werden weder maßlos noch gewalttätig geboren, sie werden, wenn überhaupt dazu gemacht. Und da muss angesetzt werden, nicht bei dem ohnehin schwächsten Glied, dem Kind.
Hinzu kommt, dass ich wirklich nicht sicher bin, ob das mit der Gewalt auf der Straße wirklich stimmt. Was wohl stimmt, ist dass wir durch die Medien und die praktisch ständige Vernetzung viel mehr davon mitbekommen.

Haben Sie durch Ihre Arbeit Freunde gewonnen? Sind Sie für andere ein Feind?

Ich habe eine Reihe von Freunden gewonnen. So würde ich inzwischen die Mitglieder des Vorstandes durchaus zu meinen Freunden zählen. Aber auch anderen Vereinsmitgliedern fühle ich mich freundschaftlich verbunden.
Bin ich für andere Feind? Ich denke, das bin ich. Und ich hoffe, dass bin ich!

Was sollte ich Sie noch fragen? Was können Sie im Rahmen dieses Interviews der Leserschaft vermitteln? Stellen Sie sich ggfls. die Frage selbst und antworten Sie bitte darauf.

Am liebsten den Text eines meiner (vielen) Lieblingslieder von Ton, Steine,Scherben teilen:

Ich war oft am Ende, fertig und allein.
Alles, was ich gehört hab, war: "Lass es sein!
So viel Kraft hast du nicht, so viel kannst du nicht geben.
Geh den Weg, den alle geh'n, du hast nur ein Leben."

Doch ich will diesen Weg zu Ende geh'n,
und ich weiß, wir werden die Sonne seh'n!
Wenn die Nacht am tiefsten ist, ist der Tag am nächsten.

Manchmal bin ich kalt und schwer wie ein Sack mit Steinen.
Kann nicht lachen und auch nicht weinen.
Seh' keine Sonne, seh' keine Sterne,
und das Land, das wir suchen, liegt in weiter Ferne.

Doch wir werden diesen Weg zu Ende geh'n,
und ich weiß, wir werden die Sonne sehn!
Wenn die Nacht am tiefsten ist, ist der Tag am nächsten.
(1975)

Danke für dieses Interview!

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