Schule der Zukunft als Initiationsraum zur Selbstbildung

Die Betonung unseres momentanen Schulsystems in Sachen Bildung liegt sehr stark darauf, bestimmte Wissensinhalte in Vollständigkeit an die Schüler weiterzugeben. Oftmals wird zu diesen Inhalten gar kein Bezug zu der Lebenswelt der Schüler hergestellt. Die dahinterliegende Vorstellung fußt auf der Überzeugung, je mehr Wissen vermittelt wird, desto intelligenter macht das die Kinder/Jugendlichen. Begründet wird dieses oftmals stupide Auswendiglernen und mühsame Aneignen von Wissen mit dem Anspruch auf Allgemeinbildung. Den Schülern werden fachliche Inhalte nahe gebracht ohne Selbstbezug und ohne Vorbereitung des Lernraumes in der Weise, dass ein Einsatz für die Erarbeitung des Lernwissens auch Sinn für sie macht. Sie haben einfach Bereitschaft zum Lernen zu haben, auch wenn der Lerngegenstand für sie völlig abgekoppelt scheint von allem, was sie interessiert. Verstehen Sie mich bitte richtig, natürlich muss Wissen vermittelt werden, ohne einen gewissen Grundbestand von Wissen, kann ich auch keine weitergehenden Überlegungen anstellen. Aber ist es nicht Aufgabe des Wissensvermittlers, den Lernenden für eine Lernsache zu gewinnen, ihn zu begeistern oder wenigstens ihm zu erschließen, wofür dieser Lerninhalt hilfreich sein kann und wo er hilft, über das bisherige Wissen hinauszudenken? Natürlich ist es auch hilfreich, wenn das Lernen einen handlungsorientierten Aspekt beinhaltet, der zeigt, wozu das Gelernte gut ist, wo man den gelernten Inhalt einsetzen kann.
Vor lauter „Abarbeiten und Hinterher hetzen“ hinter dem Bildungsplan bleibt kaum Energie übrig, sich als Pädagoge selbst über den Aufbau der Lerninhalte Gedanken zu machen und den Schülern eine Art Lernlandkarte an die Hand zu geben, die immer wieder Orientierung gibt und aufzeigt, in welchem Lernraum wir uns gerade befinden, was als Nächstes darauf aufbaut usw. Auch wird nicht selten keine Aussicht gegeben auf eine alltagspraktische Einheit, die dann wiederum ermöglicht, das neue Wissen auch alltagsbezogen einmal anzuwenden, sodass ein gewisses, tieferes Verständnis dafür entsteht, warum dieser Lernstoff nun tatsächlich mühsam erarbeitet wurde.
Der Selbstbezug des Systems, wo es sozusagen das „Nichtfunktionieren“ von Lernen mit verursacht, wird nicht hergestellt. In der Regel sind es die Schüler, die zu irgendetwas nicht in der Lage sind. An Elternabenden wird dann appellartig den Eltern die Unfähigkeit von Schülern oder die besonders schwierige Klasse präsentiert und man sitzt da und fragt sich, was der unausgesprochene Anspruch des Lehrers an die Eltern wohl sein kann.
Beobachtet man hinreichend viele Schulklassen in ihrem alltäglichen Unterricht, so stellt man erstaunt fest, dass die durchschnittliche Zahl pseudomäßiger Leistungssituationen im Vergleich zu den echten Lernsituationen deutlich überwiegt. Manche Lehrer machen nämlich aus jedem kleinsten Frage- und Antwortspiel, jeder Stillarbeit und aus jeder gemeinsamen Aufgabenlösung an der Tafel für die Mehrzahl der Schüler eine leistungsthematische Situation. Sie äußern gegenüber einzelnen Schülern positive und negative Erwartungen, schaffen dadurch einen permanenten Konkurrenzdruck im Klassenzimmer, kommentieren und bewerten jede Frage und jede Antwort, reglementieren die Zeit zum Nachdenken und beurteilen bzw. bewerten vor der gesamten Klasse Stärken und Schwächen einzelner Schüler. Lehrer können – oft unbewusst und völlig ungewollt – ihren Unterricht in eine Kette von Pseudo- Leistungssituationen transformieren und auf diese Weise das Lernen behindern.
Natürlich leuchtet jedem ein, dass im Unterricht beides sein muss: Zum einen Lernen als Aufnahme und Verarbeitung neuer Informationen, als erprobende Auseinandersetzung mit schwierigen Aufgaben, als Erwerb eines gut verstandenen, flexibel nutzbaren Wissens und zum anderen auch als Leistung zur Bewährung und Bekräftigung des Gelernten und zur individuellen, sozialen und Kritik beinhaltenden Selbstbewertung der Lernenden. Meiner Ansicht nach aber ist es Aufgabe eines guten Unterrichts Lern- und Leistungssituationen im Bewusstsein der Schüler so zu trennen, dass eine produktive Lernkultur entstehen kann.
Die herkömmliche Schule, die von Schülern vor allem Anpassung, Unterordnung, Fähigkeit zur Arbeitsteilung, Lesen und Rechnen und eine mehr oder weniger unkritische „Robotermentalität“ erwartet, gehört zum ausklingenden Industriezeitalter.
Die künftige Schule muss jedoch zum zukünftigen Informationszeitalter passen, das von jungen Menschen Mobilität, Flexibilität, Kreativität, selbstständiges Lernen und Umlernen, sowie Selbstverantwortlichkeit bei der Informationsgewinnung und -verarbeitung verlangt. Auch die moderne Gehirnforschung zeigt uns auf, wie wichtig übergreifende Vernetzung im Denken und Handeln ist, um mündiges und eigenständiges Denken freizusetzen.
Die Jugendlichen haben ein Recht darauf, sich kritisch mit unserer Gesellschaft auseinanderzusetzen. Der Anspruch humanistischer Bildung, auch Abstand zu Gegenwartshaltungen zu gewinnen und den Bezugspunkt zu wechseln, um kritisch auf gegenwärtige Entwicklungen und geforderte Notwendigkeiten zu sehen, wird heute vieler Orts nur noch belächelt. Gott sei Dank bestätigen Ausnahmen die Regel. Da unsere Welt kleiner wird und sich keinesfalls alle Menschen unseren Standard werden leisten können, würde ich es mir im Namen der Jugend wünschen, dass die Schule als Sozialisations- und Bildungsinstanz, den Mut findet, sich hier aktiver hineinzudenken und die Jugendlichen auf die notwendige Haltungsumkehr vorbereiten. Diese stehen solchen Fragen durchaus offen gegenüber.
Selbstwert ergibt sich eben nicht durch Erwerb von immer noch mehr Besitz oder durch ein Tun das immer schneller und besser ist als das von anderen oder gar durch die ausschließliche Anerkennung durch andere, z.B. Lehrer. Sondern Selbstwert entsteht vor allen Dingen durch die Selbstachtung des eigenen Wesens und dem Folgen der Bewegungen, die sich dadurch ergeben. Auch liegen gesellschaftliche Antworten zukünftigen Handelns sicher nicht mehr in der Abgrenzung und Selektion des Einzelnen vom Ganzen. Es wird wieder mehr darum gehen müssen, sich als verbunden zu verstehen und zu fühlen und gemeinschaftlich um ein gutes Leben zu ringen.
Die Schule braucht eindeutig mehr Selbstverantwortung. Schulen sollen zu einem Ort werden, an dem Arbeiten und Lernen Spaß machen. Engagiert-reflektierte Lehrkräfte setzen sich deshalb für mehr Autonomie und Eigenverantwortung in der Schule ein. Es ist an der Zeit, den Sachverstand und die Fähigkeiten der Menschen an der Schule ernst zu nehmen.
Aus meiner Sicht sollte Schule verstärkt erzieherisch einwirken, wieder vermehrt Grundwerte diskutieren, sowie auf Charakter- und Herzensbildung hinwirken, die sich allerdings aus Gemeinschaftsprozessen ergeben sollte. Orientierungswerte sind laut Grundgesetz vor allem das Grundrecht auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit, sowie die Forderung nach individueller Chancengleichheit. Diese erziehungsrelevanten Normensäulen des Grundgesetzes legen dem schulischen Erziehungsauftrag eine das Elternrecht ergänzende und dienende Funktion bei. Die Schule hat sich in den Dienst der Eltern und – mit zunehmender Mündigkeit – auch des Schülers selbst zu stellen, um sein individuelles Recht auf Selbstentfaltung zu unterstützen. Statt Kontrolle auszuüben sollte mehr Beratung und Lotsenhilfe angeboten werden.
Die Mindestkompetenz die ein Schüler für eine angemessene Lebensführung in der heutigen Gegenwart braucht ist: Er muss mit der Vielfalt und dem Widerstreit der Werte leben können, mit anderen Menschen in ihren kleineren und größeren Gemeinschaften im Alltag, in der Gesellschaft und im globalen Rahmen ihres Zusammenlebens der Gesellschaften friedlich zusammen leben können, er muss arbeiten können, sich als Bürger politisch beteiligen können, seine eigenen Lebensformen finden können, sich selbst entfalten und ausdrücken können, sich als „Laie“ in der durch Wissenschaft und Experten bestimmten Welt orientieren und sie lebenspraktisch bewältigen können, mit der Technik leben können, mit der eigenen Endlichkeit und Verletzlichkeit umgehen können, mit den persönlichen und gesetzten Begrenzungen, der Religion und dem Glauben leben können. Er muss also mit dem eigenen Leben in seinen Grenzen und Möglichkeiten umgehen können. So etwas kann ausschließlich in gelebter Gemeinschaft gelernt werden.
Mit einer Erziehung zur Leistungsfähigkeit und zu sozialem Miteinander unterstützt die Schule die Persönlichkeitsentfaltung des Schülers und erweitert dessen individuellen Entfaltungsraum auch im Sinne individueller Entfaltung der Persönlichkeit und im Sinne gemeinschaftsorientierter Erziehung.
Angesichts des Zusammenbruchs der alltäglichen Konventionen und Gewohnheiten sind (zukünftige) Erwachsene heute gefordert als Gestalter ihres eigenen Lebens, gewissermaßen als Künstler ihrer selbst. Darin liegt die zentrale pädagogische Herausforderung der Gegenwart – und nicht in der albernen Frage, danach, ob sie sich in der Schule ein bisschen mehr oder ein bisschen weniger Mathematik angeeignet haben. Allgemeinbildung kann man heute übersetzen als aktive Teilhabefähigkeit in den verschiedenen Lebensbereichen. Erworben wird diese durch praktische und symbolische Teilhabe. Es ist nicht nur für die Zukunft unseres Bildungssystems, sondern für die Gesellschaft insgesamt entscheidend, Bildung auf Lebensbewältigung im Ganzen zu beziehen und dabei die Aufmerksamkeit insbesondere auf die Kunst eines erfreulichen Zusammenlebens zu richten.
Nicht zuletzt deswegen kommt es für die praktische Pädagogik entscheidend darauf an, Jugendliche nicht nur auf ihre spätere Existenz als Erwachsene und die erwachsene Teilhabe an den wesentlichen gesellschaftlichen Feldern von Arbeit, Politik, Kultur, Wissenschaft und Religion vorzubereiten, sondern ihnen schon in der Gegenwart soweit wie möglich aktive Teilhabemöglichkeiten zu erschließen. Denn allgemeine Menschenbildung hat nur dann eine Chance, wenn sie als alltägliches Prinzip verstanden und gelebt wird und zur Zivilisierung und Kultivierung des Alltags beiträgt – auch, aber keineswegs nur,– in den Bildungsinstitutionen.
Menschen erziehen ihren Nachwuchs nicht nur, sie denken über ihr erzieherisches Handeln auch laut nach, und sie reden darüber– jedenfalls dann, wenn ihnen ihre Lebensumstände dafür Raum und Möglichkeiten bieten.
Erziehung geht davon aus, dass ein Einzelner eine in sich „geschlossene“ Persönlichkeit entwickeln kann, die zugleich ästhetischen und moralischen Ansprüchen genügt und dass sie ihn beim bestmöglichen Ausschöpfen der je eigenen Möglichkeiten unterstützen kann. Individualität ist ihrem Wesen nach unveränderbar und unwandelbar. Sie entzieht sich jedem analytisch zergliederndem Zugriff. Wer andere bilden möchte, muss auf diese ihre Individualität unvermeidbar Rücksicht nehmen, er hat die Eigentümlichkeiten ihrer Individualität aufzusuchen und denselben mit strenger Anhänglichkeit treu zu bleiben. Sowohl die dem Menschen eigene Kraft, wie seine sich aus der Kraft resultierende Individualität brauchen ein Gegenüber: „Da jedoch die bloße Kraft einen Gegenstand braucht, an dem sie sich üben, und die bloße Form, der reine Gedanke, einen Stoff, in dem sie sich darin ausprägend, fortdauern könne, so bedarf auch der Mensch einer Welt außer sich“ ( Alexander von Humboldt).
Im Dialog und in der Begegnung bildet sich Sprache. Durch die Sprache gewinnt der Mensch Subjektivität und gesellschaftliche Objektivität zugleich. Alles, was er sich vorstellt, kann er in Sprache ausdrücken und anderen verständlich machen. Genauso kann er im Außen Gesprochenes vernehmen. Im gegenseitigen sich verständlich machen und verstehen, fängt er an sich selbst zu verstehen. Das eigene Wort braucht Resonanz, Wiedertönen, um tatsächlich in der Welt Platz zu finden. Das Pädagogische Handeln sollte auf die Versöhnung von Individualität und Identität angelegt sein. Wer andere bilden will, tut dies am besten, indem er sich selbst bildet. Bildung funktioniert auf merkwürdig selbstbezogene Weise in paradox ineinander geschachtelten Spiegelungen von Welt und Menschen. Die Bildung, die das Gymnasium durchschnittlicher Weise vermittelt, lässt leider Aufklärung, Kritik- und Urteilsfähigkeit als wünschenswerte Ziele nicht selten fehlen. Stattdessen fördert sie eher den Bildungsbürger: mit festen, klaren Sätzen, Schablonen und in der Vergangenheit erworbenen Erkenntnissen, – jetzt als scheinbar feststehende Gesetze unter dem Arm. Scheuklappen bilden sich nach links und rechts, Engstirnigkeit im Kopf, Angepasstheit und Bequemlichkeitsgeist als Förderer von eingleisigen Lernbahnen sind auf der Tagesordnung. Immer wieder wird der Bildungsbegriff korrumpiert und für andere Zwecke missbraucht, die der Gleichschaltung, der Einebnung von Individualitäten dient.
Vielleicht sollte man die Frage der Bildung näher heranrücken an die Frage nach dem Leben. Denn bei allem Lebendigen wird eines klar: es lässt sich nicht ausrechnen und verwalten. Sondern es bricht sich Bahn und geht seinen Weg. Wege entstehen beim Gehen, wie es so schön heißt. Zur Bildung gehört unbedingt die Frage nach dem guten Leben. Erziehung ist nichts anderes als professionelle Lebensbegleitung.
Politisches Handeln kann freiere Spielräume schaffen. Pädagogisches Handeln, kann Individuen so bilden, dass ihr Handeln andere als die schon bestehenden institutionellen Strukturen hervorbringt. Erwachsene und Jugendliche lassen sich bilden, weil sie ihr Leben verbessern wollen und bereichern möchten, weil sie auch noch unter dem Druck selbst gesetzter Qualifikationsanforderungen ihrem Leben eine Wendung geben wollen, die vor dem Ganzen ihrer Existenz bestehen können soll.
Moralisches Wissen und moralische Motivation entstehen in den Verdichtungsmomenten wechselseitiger und mehr oder weniger einfühlsamer Beziehungen. Sie entstehen vor dem Hintergrund bedeutsamer, affektiver, intimer Beziehungen zwischen Gleichaltrigen. Diese gelebten und gefühlt erfahrenen Beziehungen verhelfen ihnen sowohl zu einem reinen Konzept der eigenen wie auch der anderen Person, als auch zu der damit einhergehenden Fähigkeit der Einfühlung in andere Nächste. Die sozialisierende Funktion von Freundschaften muss und soll deshalb unbedingt als Bildungselement Platz finden. Der Bildungsraum sollte so angelegt sein, dass er unterstützend wirkt im Hinblick auf die Ausprägung von Persönlichkeit. Unter Persönlichkeit verstehe ich die Kompetenzen, die ein Subjekt sprach- und handlungsfähig machen, also befähigen, an Verständigungsprozessen teilzunehmen und die eigene Identität zu behaupten. Ich gehe davon aus, dass ein gutes Gemeinwesen elementar auf das Engagement, die Verantwortung und die Teilhabe seiner Mitglieder an den übergreifenden gesellschaftlichen Fragen und Werten angewiesen ist. Ohne eine Beteiligung der Mitglieder an den gemeinschaftstragenden Gütern, Werten und Entscheidungen wird das soziale Band brüchig und es zerfällt der Gemeinschaftssinn. Ohne eine Grundübereinstimmung an geteilten Werten und allgemein anerkannten, moralischen Normen ist der Zusammenhalt einer Gemeinschaft auf Dauer gefährdet. Die Mitglieder einer Gesellschaft/Gemeinschaft müssen daher an den allgemeinen, gesellschaftlichen Werten teilhaben, und sie müssen die Möglichkeit haben, sich auch an den moralischen Diskursen über diese Werte und ihre Umsetzung beteiligen zu können. Moralische und soziale Lernprozesse können stimuliert werden. Hierfür braucht es allerdings Gelegenheiten zur Perspektivübernahme und zur Übernahme von Verantwortung. Die Schule als Sozialraum ist hierfür der richtige Platz. Entscheidend sind nicht die demokratisch herbei geführten Lösungen, sondern die damit verbundenen diskursiven Prozesse und Begründungsmodi, die Gelegenheit zur Perspektivenübernahme bieten.
Versuchen wir doch einmal den Bildungsvermittler, also den Lehrer, im weitesten Sinne als Kulturvermittler zu verstehen. Und versuchen wir zu begreifen, dass das Lernen mit ihm – aus Sicht der Schüler genau dann greift, wenn er sich als Aufführender kulturellen Handelns versteht. Die Lernsituation, soll sie vom Schüler genutzt werden, kommt nicht umhin, einen Ereignischarakter zu entwickeln.
Gelingt es, Lernen als gemeinsam inszenierten Lernprozess zu gestalten, haben wir sofort ein Vielfaches an Aufmerksamkeitsleistung im Raum, und das nicht nur auf Seiten der Lernenden, sondern auch auf Seiten des Bildungsvermittlers, der in diesem beschriebenen Rahmen ebenfalls Lernender bleibt. In diesem Setting spielen natürlich die Individualitäten der Handelnden eine größere Rolle, wie im traditionellen Überformungskontext. Hier werden deshalb eindeutig die Grenzen der Voraussehbarkeit und Planbarkeit sozialen Handelns sichtbar. Sinnliche und kontextuelle Bedingungen des gemeinsamen „Lernhandelns“ sind also sehr viel bedeutungsschwerer, wie in den letzten Jahrzehnten angenommen.
Die Einmaligkeit des Handelns wird durch gesellschaftliche und kulturelle Muster ermöglicht. Handeln wird hier als Nachahmung, Teilnahme und kreativer (Um-)Gestaltung kultureller Praktiken begriffen. Soziale Darstellungen und Modelle haben ganz einfach Orientierungscharakter. Der Handelnde inszeniert sein Tun und sich selbst. Dabei bringt er sich in seinen Handlungen in Erscheinung. Er erzeugt Bilder seines Handelns und seiner selbst in Form sinnlich-körperlicher Repräsentation für die Erinnerungs- und Vorstellungswelt seiner Mitmenschen.
Der Lernraum ist zwar ein ständig in anderer Form wiederkehrender und beständiger, andererseits aber immer neu: ein einmaliges und zeitlich begrenztes Ereignis.
Im Alltag der Schulen finden nicht nur in offiziellen Lernprozessen viele Inszenierungen und Aufführungen sozialer Situationen statt, in denen Menschen zum Ausdruck bringen, wie sie gesehen werden wollen und welche Rolle sie in der Gemeinschaft einnehmen wollen. Beim Lernen vollziehen wir mit Hilfe sprachlicher Äußerungen Handlungen. Äußerungen können glücken oder missglücken, sie können rückblickend zusammenfassen, bereits erworbenes Wissen darstellen oder sie können aber auch zukünftige Potenziale oder Möglichkeiten in der Darstellung des Gesamtzusammenhangs aufschließen und neugierig machen bzw. Tatkräfte zur Erschließung dieser Zukunftspotenziale werden. Dies wäre gleichbedeutend mit einem in der Gemeinschaft verankerten, selbst verantworteten Lernen, das die Sicherheit und die Ermutigung hat, dass das eigene Tun mithilft, die eigene Kultur weiter zu performieren und zu transformieren.
In dieser Art offener Lernprozesse kommt es zu einer nachahmenden Veränderung und Gestaltung des bereits Vorhandenen. Hier liegt die Chance, das innovative und kreative Moment offener Lernprozesse mit ins „Bildungsboot“ zu holen. Echtes Lernen, exploratives Lernen, das sich aus der situativen Kommunikation selbst entwickelt, wird nicht gespeist durch das Aufrechterhalten des Kanons von Beständigkeit, sondern erfährt Nahrung durch den sinnvollen, sich ereignenden Bruch mit dem Kontext. Unterricht so verstanden ist Aufführung und Durchführung von Wirklichkeit. Der Klassenraum wird zur Bühne. Es findet in Echtzeit Bildungsperformance statt. Erziehung ist eine Gabe. Erziehung ist ein überraschendes, sich aus der Zeit, der Verfügbarkeit und der Herstellbarkeit entwickelndes Ereignis. Der Bildungsvermittler gibt nur dann Erziehung und Bildung, wenn er nichts zurückverlangt und seine Maßnahmen vergisst, sodass der zu Erziehende bzw. zum Lernen Anzuregende die zum sich selbstvollziehenden Bildungsprozess notwendige Freiheit gewinnt. Die Prozessualität der pädagogischen Situation vollzieht sich jenseits bzw. unterhalb jeglicher auch der professionellen Intentionalität. Mit der Erfüllung des Zieles, in den pädagogischen Institutionen dem Einzelnen ein „Eigensein“ zu ermöglichen, wird ihm auch ein Instrument zur Verfügung gestellt, mit dessen Hilfe Kritik möglich ist, Alternativen gedacht werden können und Veränderungen angestoßen werden können. Den Unterricht vollziehen statt vorgeben. Unterricht nicht als Vortrag, sondern als zur Dialektik einladende Handlung. Performativer Unterricht zeigt sich im praktischen gemeinsamen Vollzug. Er führt sich selbst auf und wird dadurch zur einmaligen Aufführung, ähnlich der Theateraufführung, die sich für die Schauspeiler im eigenen Erleben niemals zweimal auf die gleiche Weise präsentiert, auch wenn sie den gleichen Worttext zur Aufführung bringen. Klingt das nicht spannend und aufregend zugleich? Können Sie sich vorstellen, dass Schüler bei einem solcherart gestalteten Lernprozess einschlafen könnten? – Wenn das Wissen durch gemeinsames Handeln und persönliches Ringen um die Sache in Erscheinung tritt und nicht mehr eingetrichtert wird. Dieser Prozess ist eng verbunden mit Körperlichkeit, Berührung, Bewegung und Ausstrahlung. Dahinter verbergen sich Suchbewegungen des Antwortfindens und präzisierendes Selbstdeuten, wie auch ein kommunikatives Wirken. „Die TUN-Wörter“ sich bewegen, sich verhalten, agieren, interagieren zeigen die kommunikativen Elemente des performativen Unterrichtsgeschehens noch einmal greifbar auf. Der Lehrer unterrichtet nicht selten gegen eine Nichtaufmerksamkeit von weit über 70%. Wenn man über den Dienst an den Unterrichtsinhalten hinaus keine gemeinsamen Werte verfolgt, auf die man sich verständigt hat, ist dies aber auch kein Wunder. Worum soll der Jugendliche mit dem Lehrer aktiv ringen? Worin besteht der Sinn des Geschehens, zu dem der junge Mensch eingeladen werden soll? Womit wäre er zu gewinnen? Was bräuchte es, damit Rituale der Begegnung und der aktiven Auseinandersetzung die Nichtkommunikation ablösen können?
Die konventionelle Vorlage legt bestimmte abrufbare Handlungsbereitschaften nahe. Schule setzt einen Rahmen, jede Handlung hat einen Anfang und ein Ende. Es kann geschehen, dass aus der Wiedergabe konventioneller Formen, nicht konventionelle Formen resultieren. Hierfür braucht es aber initiative Impulse durch Schüler und Lehrer. Diese Änderung einer scheinbar beständigen Liturgie beruht auf der Möglichkeit, dass eine Form mit dem ursprünglichen Kontext brechen kann, und Bedeutungen und Funktionen annehmen kann, für die sie niemals bestimmt war. Ich wünsche Lehrern und Schülern den Mut, Unterricht, Unterrichtsgestaltung, Unterrichtsprozesse, Unterrichtsinhalte neu zu formen und ihnen eine Dimension des Subjektiven hinzuzufügen, die dazu führt, dass Lernen wieder Spaß macht, zur Anstrengung bis an die Leistungsgrenze verführt und man sich beim Lernen wieder miteinander verbindet.
Aus meiner verkürzt dargestellten Ist-Analyse ziehe ich den Schluss, es braucht heute anstelle von Belehrt-Werden ein bildendes Lernen, das das Lernen als aktiven selbst organisierten Prozess versteht. Soll das Lernen zum Weltverstehen, zum Selbstverstehen und zur Weltgestaltung beitragen, darf es nicht nur aus verpflichtend zu lernenden (exemplarischen) Lernstoffen bestehen. Vielmehr müssen die Schüler in der Schule angemessen Zeit und Gelegenheit bekommen, um sich selbst mit ihren Interessen und Fragen, ihrer Neugier und ihren Problemen einzubringen. Dazu benötigen sie curriculare Freiräume, Situationen und Anlässe, Anregungen und wählbare Lernangebote, um sich dabei und daran bilden zu können.
Das spezifische Merkmal des menschlichen Lernens ist die Bedeutsamkeit des zu Lernenden für den Menschen selbst. Er will den Sinn des Lerninhalts wissen und verstehen, sei es, dass er ihn selbsttätig entdeckt ( d.h. Konstruktion von Erfahrungen, Selbsterfahrung), sei es dass er sich verstehend den Sinn nachbildet, den andere dem Lerninhalt gegeben haben (d.h. Rekonstruktion von Erfahrungen anderer, Übernahme von Fremderfahrungen), sei es dass er auf Veranlassung von Sachverhalten oder Menschen seine Wissensbestände und Einstellungen modifiziert (d.h. Dekonstruktion eigener Erfahrungen). Der Mensch lernt also entweder sinnvoll entdeckend oder sinnvoll rezeptiv.
Der Mensch muss heute Bildung als bewusste Form der Selbstbildung annehmen und die volle Verantwortung übernehmen, auch wenn er einen Mentor oder modern gesagt, einen ‚Instrukteur’ oder einen „Lernbegleiter“ an der Seite hat. Er muss mit formulieren helfen, welche Form von Lernräumen er jetzt gerade braucht und diese dann auch mitgestalten bzw. sich mit größtmöglicher Intention in vorbereitete Lernräume einbringen. Aus meiner Sicht ist es zwingend erforderlich, dass sich Schule, Schulleitung, Lehrerkollegien, (Sozial)Pädagogen, Eltern und Schüler auf die erforderliche neue Qualität des Lernens verständigen, die auf die Anforderung des lebenslangen Lernens und des zukunftsgerichteten kreativen Umgangs mit Wissen vorbereitet, und sie müssen sich auf ihre neuen Rollen und Verantwortlichkeiten in diesem neu definierten Lernarrangement gemeinsam verständigen.
Neben der Sicherung von grundlegenden Kenntnis- und Wissensbeständen über einen verpflichtenden Bildungskanon, der sich aus der Sicht des heutigen Weltbildes und heutiger Wertvorstellungen ergibt, muss gleichgewichtig die Fähigkeit zur Modellierung von zukünftiger Wirklichkeit und zum methodisch kompetenten, selbstständigen Aufbau von Architekturmustern für Wissenschaft, Gesellschaft und Lebenszusammenhänge treten.

Joachim Armbrust, Diplomsozialpädagoge und heilkundlicher Psychotherapeut mit eigener Praxis in Schwäbisch Hall.

Vertiefte Auseinandersetzung ermöglicht das vom oben genannten Autor geschriebene Buch
„Jugendliche begleiten – Was Pädagogen wissen sollten“
erschienen im Verlag Vandenhoeck und Ruprecht, im März 2011

Joachim Armbrust
Jugendliche begleiten
Was Pädagogen wissen sollten
Verlag Vandenhoeck & Ruprecht
März 2011
Ca. 144 Seiten
12.95 €
ISBN 978-3-525-70121-8
Mit einem Vorwort von Prof. Dr. Klaus Hurrelmann

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Praxis für Psychotherapie, Paartherapie, Supervision,
Coaching, Mediation und Prozessgestaltung
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