„Gewalt in der Körperbehindertenhilfe“ – Das ehrliche Buch

„Selten nur ist man von einem Sachbuch so gefesselt, daß man es möglichst ohne Unterbrechung durchliest.“, so der Diplom-Psychologe und Diplom-Theologe Dierk Schäfer in seiner Rezension dieses Buches. Obwohl: Es ist nicht schön, was drin steht, äußerte Pfarrer Jürgen Dittrich, der Leiter der „Evangelischen Stiftung Volmarstein“ (ESV) in der Pressekonferenz zur Vorstellung des Buches.

Aufgearbeitet werden in diesem Buch nicht nur kleine Sünden, „Lieblosigkeiten“, wie es Dittrichs Vorgänger meinte, sondern handfeste Verbrechen an behinderten Klein- und Schulkindern. In neun Kapiteln dokumentieren die Wissenschaftler Hans-Walter Schmuhl und Ulrike Winkler diese Verbrechen und suchen Antworten auf die Frage, wie es dazu kommen konnte. Die Opfer kommen gleich zu Wort. Anders, als in den wenigen ähnlichen Büchern von Wissenschaftlern und Historikern, ist der „Alltag im Johanna-Helenen-Heim aus der Sicht der Betroffenen“ bereits in Kapitel 2 dargestellt.

Bevor darauf einzugehen ist, verdient das Kapitel 1 Beachtung. Schon in diesem wird sichtbar: Es wurde nicht über die Heimopfer, sondern mit den Heimopfern geschrieben. Der Zeitrahmen sind die Jahre 1947 bis 1967. Auftraggeber dieser Studie ist die ESV. Auftragnehmer sind unabhängige Wissenschaftler, keine, die das Gefühl aufdrängen, einer Seite näher zu stehen als der anderen. Hans-Walter Schmuhl ist außerplanmäßiger Professor an der Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie der Universität Bielefeld. Er ist selbständiger Historiker. Ulrike Winkler ist promovierte Politikwissenschaftlerin in Berlin.
Es sind da noch die „Co-Autoren und Autorinnen“ zu erwähnen. Diesen Begriff darf man natürlich nicht zu hoch hängen. Der Unterzeichner meint die Mitwirkenden an dem Buch. Diese haben im August 2006 eine Interessenvertretung, nämlich die „Freie Arbeitsgruppe JHH 2006“ (FAG JHH 2006) gegründet. Diesem Kreis gehören fünf ehemalige Schülerinnen und Schüler, also fünf Heimopfer, drei ehemalige Mitarbeitende (zwei Diakonenschüler, eine Diakonische Helferin) und die Frau des inzwischen verstorbenen Mitbegründers dieses Arbeitskreises an. Dittrich forderte die Arbeitsgruppe auf, die Historiker zu unterstützen und so kam es zu einem Buch über Gewalt und Verbrechen, sowohl aus der Sicht der Historiker als auch aus der Sicht der Opfer. Mehr noch: Jedem Buch liegt die CD der Homepage der FAG JHH 2006 www.gewalt-im-jhh.de mit dem Stand vom Dezember 2009 bei. Transparenter kann Aufarbeitung eines so heiklen Themas nicht sein.

13 Interviews haben die Historiker mit ehemaligen Schülerinnen und Schülern geführt. Desweiteren sprachen sie mit einer Schwester, die sich durch besondere Brutalität behinderten Kindern gegenüber hervortat. Sie verbrachte ihren Lebensabend im Mutterhaus und starb wenige Wochen nach diesem Interview. Ein Interviewpartner war ein Arzt, der im besagten Zeitraum Visiten auf den Schulstationen durchführte. Hinzugezogen wurde noch vorhandenes Aktenmaterial der ESV, aber auch das auf der Homepage der FAG JHH 2006 gespeicherte Material: „Die intensive Öffentlichkeitsarbeit FAG JHH 2006 und ihre auf ihrer Homepage abzurufende Dokumentation konnten zudem dazu beitragen, dass sich die Berichte der Interviewten tendenziell anglichen.“, so Schmuhl und Winkler im Buch.

Ehrlich ist dieses Buch noch aus einem anderen Grund. Es wurde nicht zur Selbstbeweihräucherung einer diakonischen Institution mißbraucht. Jürgen Dittrich bekennt sich zu den Gewalttaten unter Verantwortung seiner Vorgänger. Man findet nicht die ökumenische Sprachregelung zu dieser Thematik: „Heute ist alles ganz anders; heute ist alles viel besser“, wie sie beispielsweise ähnlich in dem Buch „Endstation Freistatt“ aus der Feder des Leiters der von Bodelschwingschen Stiftung Bethel zu lesen ist. Dittrich schwadroniert nicht, sondern wiederholt in seinem zweiseitigen Vorwort seine schon zuvor formulierte Entschuldigung. Außerdem dankt er den ehemaligen Heimkindern, „dass sie den gemeinsamen, wenn auch beschwerlichen und belastenden Weg der historischen Aufarbeitung mitgegangen sind und bereit waren, ihre Erlebnisse den Historikern vertrauensvoll zu erzählen.“

Dass die Evangelische Stiftung heute nichts mehr zu vertuschen versucht, zeigte sich in dem Angebot an die FAG JHH 2006, selbst auch ein Vorwort zu schreiben. In diesem zeigt die FAG die Wichtigkeit der Aufarbeitung dieser Zeit auf und unterstreicht ihre Absicht, andere Opfer und Behinderteneinrichtungen zu ermutigen, sich selbst auch mit ihren dunklen Kapiteln zu befassen.

Das Inhaltsverzeichnis gliedert sich in neun Kapitel. Gleich nach der Einleitung in Kapitel 1 finden sich die Opfer im Kapitel 2 wieder. Auf 130 Seiten geht es um die Wege ins Johanna-Helenen-Heim, die Räumlichkeiten, die Bezugspersonen der Kinder und den Tagesablauf. Es folgen auf 25 Seiten Schilderungen von Strafen und Gewalt. Dies reicht aus wissenschaftlicher Sicht aus, zumal die CD der FAG JHH 2006 beiliegt und einen tiefen Einblick in die damalige Zeit bietet. Beleuchtet wird im selben Kapitel das Verhältnis der Kinder untereinander, die Zwangsarbeit der Kinder, die medizinische Versorgung und die Beschulung. Das für die Betroffenen wichtigste Kapitel endet mit den „Wege[n] aus dem Johanna-Helenen-Heim“.

Danach finden sich Einblicke in die Geschichte der Behindertenarbeit, in die Geschichte des Johanna-Helenen-Heims und in die Geschichte der Königsberger Diakonissen. Kapitel 6 befaßt sich mit dem Lehrpersonal und Kapitel 7 mit den medizinischen Kräften, die für die Heimkinder zuständig waren. Dr. Alfred Katthagen, seinerzeit Oberarzt, später Chefarzt der Orthopädischen Anstalten Volmarstein, findet hierbei besondere Beachtung. Seine Einstellung zur Eugenik, die sich in seiner Doktor-Arbeit niederschlägt, wird aufgezeigt.

Kapitel 8 behandelt den „Umgang mit den Mißständen“. Wer hat wann von den Verbrechen gewußt und wie darauf reagiert? Schonungslos wird aufgezeigt, dass sämtliche Kontrollmechanismen versagt haben, so sie überhaupt bestanden haben.

Mit Recht kann festgestellt werden, dass dieses Buch einmalig ist. Für den Bereich der Körperbehindertenhilfe ist kein anderes zu finden. Es ist kein Gefälligkeitsgutachten und es wurde nicht über die Köpfe der Opfer hinweg geschrieben. Kapitel 2 wurde nach der groben Fertigstellung der FAG JHH 2006 zur Begutachtung zugeschickt. Das war gut so, konnten doch letzte Erinnerungen hinzugefügt und Unklarheiten beseitigt werden. Kurz vor der Fertigstellung des Buches fand die Rekonstruktion der Räumlichkeiten des Kinderheimes durch die FAG seinen Abschluß und dokumentierte die bedrückende Enge, unter der die Kinder neben Gewalt und Terror zusätzlich zu leiden hatten. Mit Grafiken darüber und Bildern aus dem damaligen Alltag wird das Buch noch einmal mehr spannender.

Der oben zitierte Theologe Dierk Schäfer an anderer Stelle seiner Rezension: „Damit bietet die Untersuchung zugleich eine Geschichte der Behindertenpädagogik, der ‚Krüppelpädagogik’, die ein beängstigend-trauriges Kapitel der Diakoniegeschichte darstellt.“

Die FAG JHH 2006 empfiehlt dieses Buch. Es gehört zur Standard-Literatur in der Pädagogik-Ausbildung, es gehört in alle Heime mit Zugriffsmöglichkeit für Heimbewohner und Heimbewohnerinnen und Mitarbeitende, es gehört in alle Kirchengemeinden zur Nachbesinnung dieser dunklen Zeit kirchlichen Versagens. Vor allem gehört es in die Hände derer, die versagt haben und derer, die darüber zu befinden haben, wie den Hilflosesten der Gesellschaft im Alter Entschuldigung, Wiedergutmachung und das Verhindern einer weiteren Heimeinweisung – nunmehr ins Altenheim – gewährt werden können.

Helmut Jacob
03. Mai 2010

Hans-Walter Schmuhl und Ulrike Winkler
Gewalt in der Körperbehindertenhilfe Das Johanna-Helenen-Heim in Volmarstein von 1947 bis 1967
Verlag für Regionalgeschichte 2010. ISBN 978-3-89534-838-9. 328 Seiten, 28 Abb. 19,80€

Links:
http://dierkschaefer.wordpress.com/2010/03/21/im-herzen-der-finsternis/

http://www.gewalt-im-jhh.de/Gewalt_in_der_Korperbehinderte/gewalt_in_der...

http://www.esv.de/index.php?option=com_content&view=article&id=305:buch-...

http://www.schmuhl-winkler.de/

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