Warum Missbrauchsopfer schweigen - Elisabeth Keller im Gespräch mit Hans Georg van Herste

EK Sie haben selbst häusliche Gewalt erlebt und setzen sich seit vielen Jahrzehnten für Opfer von sexuellem Kindesmissbrauch ein. Wie kommt es, dass die meisten Opfer schweigen und Sie z. B. nicht?

vH Wahrscheinlich hat die Konditionierung bei mir nicht so stark gegriffen, wie bei den meisten anderen. Außerdem hat es bei mir nicht so lange gedauert. Nach meiner Einschulung gab es „nur“ noch Psychoterror.

EK Wie haben Sie das kompensiert?

vH Ich war extrem nervös, Bettnässer und kaute mir die Fingernägel bis aufs Blut ab. Ich hatte Minderwertigkeitskomplexe bis zum Abwinken und traute mich kaum noch, etwas zu sagen oder zu tun. Ich war immer der Ansicht – und das wurde mir auch dauernd suggeriert –, ich wäre zu dumm, um irgendetwas richtig zu machen. Obendrein wollte man mir einreden, dass das, was ich erlebt hatte, nur meiner regen Phantasie entsprungen sei. Obwohl ich genau wusste, dass das was passiert war, wirklich passiert war, zweifelte ich oft an meiner Wahrnehmung. Also zog ich mich total zurück.

EK Wie haben Sie es dann geschafft, ihr Schneckenhaus zu verlassen?

vH Nach der zehnten Klasse habe ich die Schule gewechselt. Das hat mir sehr geholfen, da ich dort mit Lehrern und Mitschülern konfrontiert wurde, die keine Vorurteile gegen mich hatten. In der vorherigen Schule war ich als Einzelgänger und Sonderling bekannt. Da hätte ich niemals eine Chance bekommen.

EK Wie ging es dann weiter?

vH Da ich auch zu Haus immer uninteressanter wurde – es wurde an der Karriere meines jüngeren Bruders gefeilt – und ich mich, soweit das möglich war, immer wieder außer Haus aufhielt, sank der Druck auf mich rapide ab. Nach und nach bekam ich ein Gefühl dafür, was es heißt, ohne ständiges kontrolliert werden zu leben. Das wiederum führte dazu, dass ich mich nicht nur ausschließlich mit mir und meinem Überleben beschäftigte, sondern nach und nach mitbekam, was um mich herum passiert.

EK Und dann sprachen Sie zum ersten Mal über ihre eigenen Erlebnisse?

vH Nein. Ich musste erst einmal begreifen, was ich selbst erlebt hatte und dass es vielen anderen ebenso ergangen war oder noch erging. Erst als ich für mich selbst Vergleiche angestellt hatte und sah, dass andere genauso litten, an ihren Nägeln kauten, ins Bett machten oder vor Nervosität, Angst und Minderwertigkeit kaum am Leben teilnehmen konnten, machte ich zum ersten Mal – natürlich ganz vorsichtig – den Mund auf.

EK Was geschah dann?

vH Ich musste schnell lernen, dass weder Opfer noch Täter an Gesprächen interessiert waren. Dass Täter lieber schweigen, leuchtet ein, aber Opfer? Ich konnte das nicht begreifen und es sollte viele Jahre dauern, bis ich hinter das Prinzip der Konditionierung kam.

EK Erklären Sie es.

vH Wird z. B. ein Mädchen schon sehr früh, also vor dem dritten Lebensjahr, sexuell missbraucht, wächst es in dem Glauben auf, das wäre normal. Da Mutti nicht nur davon weiß, sondern vielleicht Vati sogar noch unterstützt, kommt das Kind nicht auf die Idee, hier könnte etwas gehörig falsch laufen. Die Übergriffe gehören zum Leben dieses Mädchens genauso dazu, wie essen, schlafen und spielen. Niemand redet darüber, es passiert einfach.

EK Haben Kinder keine Schmerzen dabei?

vH Doch natürlich. Ich denke, dass irgendwann ein Gewöhnungsprozess einsetzt. Die Aufmerksamkeit, die das Opfer bekommt, macht viel Unangenehmes wett. Und wenn die Schmerzen im Laufe der Zeit nachlassen, ist es gar nicht mehr so schlimm. Der Täter beherrscht sein Opfer mit Haut und Haaren und sorgt dafür, dass sich das Opfer ausschließlich nach ihm ausrichtet. Vati ist der Größte und nichts und niemand kann ihn vom Thron stoßen.

EK Das heißt, eine Prinzessin wächst heran.

vH Ja, so könnte man es nennen. Das Opfer lebt ganz selbstverständlich mit dem Missbrauch, hat sich voll in seine Rolle eingefunden und gelernt, dass Vati nur lieb ist, wenn es sich zur Verfügung stellt. Wenn dann auch noch erste sexuelle Gefühle dazukommen – was ja im Grunde ganz normal ist, wenn man sich mit den Genitalien beschäftigt – und das Ganze zum Geben und Nehmen wird, hat die Konditionierung voll gegriffen. Es ist ein Band entstanden, dass niemand mehr zerreißen kann.

EK Das ist doch krank.

vH Natürlich ist das krank. Das Problem dabei ist, dass das Opfer und auch viele Täter und Mitwissende das nicht so sehen oder sehen wollen. Die meisten Täter reden sich heraus, indem sie behaupten, das Opfer hätte eine derartige Beziehung selbst gewollt. Dass es aber der Täter war, der eine solch kranke Beziehung erst initiiert hat, wird dann lieber verschwiegen. Ein Kind im Alter von zwei oder drei Jahren käme nie von selbst darauf, mit dem eigenen Vater, Bruder, Onkel schmerzhaften Geschlechtsverkehr haben zu wollen.

EK Wie entsteht dann das Borderline-Syndrom?

vH Der Täter, der diese Beziehung anfangs eingeleitet und über Jahre hinweg davon profitiert hat, beendet sie eines Tages. Sei es, weil das Mädchen in die Pubertät kommt und somit nicht mehr ins Beuteschema passt, er Angst vor Entdeckung hat oder zu einer Jüngeren überwechselt. Es gibt viele Gründe dafür. Und dann bricht für das Opfer eine Welt zusammen. Es kann nicht verstehen, warum es nun plötzlich nicht mehr die Nummer Eins sein soll und fängt an, die Schuld bei sich selbst zu suchen. Das Belohungssystem im Gehirn funktioniert nicht mehr. Die Glücksgefühle bleiben aus. Es muss sich völlig neu orientieren.
Leider bleibt die Fixierung auf den Täter bei den allermeisten Opfern erhalten. Sie geben nicht ihm die Schuld, sondern sich selbst oder anderen Menschen. Auf diese Weise entsteht eine Persönlichkeit, die emotional nach wie vor abhängig ist vom Täter, diesen aber nicht mehr in der früheren Form zur Verfügung hat. Das Mädchen wird magersüchtig, um den kindlichen Körper zu erhalten, stürzt in der Schule ab oder schreibt nur noch gute Noten, um wieder geliebt zu werden, oder sucht sich, ob lesbisch oder nicht, einen Freund, um Vati eifersüchtig zu machen.
Da dieser Freund niemals mit ihrem Idol mithalten kann und Vati obendrein wenig beeindruckt ist, wird nicht Vati, sondern der Freund abgestraft und/oder ausgewechselt. Es gibt Frauen, die auch im Alter von fünfzig oder sechzig Jahren immer noch so ticken. Diese Lebensweise hat sich dermaßen eingebrannt, dass sie sie nach wie vor ausleben, selbst wenn Vati lange tot ist.
Jeder neue Mann wird mit Vati verglichen und verliert. Werden Kinder in so eine kranke Beziehung hineingeboren, müssen auch die unter den Emotionsausbrüchen der Mutter leiden. Nichts kann man der Mutter recht machen. Was eben noch toll war, ist plötzlich schlecht. Hat Mutter die Kinder noch vor wenigen Minuten in den Arm genommen, so ist sie plötzlich unnahbar und extrem abweisend. Die Kinder werden beschuldigt, den Spielraum der Mutter einzuengen. Ohne sie hätte sie sich längst einen neuen Mann gesucht. Und der wäre dann ganz bestimmt so, wie Vati mal war. Auf diese Weise wird die Borderline-Störung weitergegeben.
Im Extremfall stellt eine Mutter ihrem Vati ihre eigenen Kinder zur Verfügung. Sie hegt die Hoffnung, wenigstens dadurch von ihm geliebt zu werden.

EK So etwas kommt vor?

vH Leider ja. Ich habe im Laufe meines Lebens mehrere Geschichten dieser Güte hören müssen.

Ek Aber wieso schweigen die Opfer? Sie müssten doch irgendwann Wut auf den Täter entwickeln.

vH Nein, das ist ja das kuriose. Im frühkindlichen Stadium vernetzen sich die Gehirnzellen so miteinander, wie es das Kind in dem Moment braucht. Das heißt, die Vernetzung richtet sich voll auf den Täter aus. Was der tut oder sagt ist Gesetz und wird in dem Alter nicht hinterfragt. Selbst schwerste Misshandlungen werden irgendwann als unabänderbar hingenommen und führen mithilfe des Belohnungssystems nicht zu einer emotionalen Abkehr vom Täter.
Diese früh entwickelten Mechanismen können im Kindesalter schwerlich abgeändert werden und halten in den meisten Fällen ein Leben lang. Nur sehr selten gelingt es, das Opfer von der Unrechtmäßigkeit dieser Entwicklung zu überzeugen. Selbst erfahrene Therapeuten müssen irgendwann das Handtuch werfen, wenn das Opfer im Grunde genommen nicht an einer Änderung seiner eigenen Denk- und Handelsweise interessiert ist.
Ich musste im Laufe meines Lebens mehrfach feststellen, dass eine Therapie nur angefangen wurde, um den Täter zu schocken. Das Opfer wollte dem Täter Angst einjagen, ihn erpressen, um seine Aufmerksamkeit zurück zu gewinnen. Oder der Therapeut wird seines Status´ wegen angehimmelt. Die Sucht zu gefallen treibt oft seltsame Blüten.
Merkt das Opfer, dass das nicht funktioniert, kehrt sie dem Therapeuten den Rücken, nicht dem Täter, da es hofft, dass es eines Tages doch noch von ihm geliebt werden könnte. Später wird das Opfer behaupten, der Therapeut hätte es nur vom lieben Vati weglocken wollen. Der böse Therapeut hätte schlechte Dinge über Vati gesagt. Der Missbrauch sei vom Therapeuten nur eingeredet worden, obwohl klar feststeht, dass das Opfer dem Therapeuten alle Einzelheiten des erlebten Missbrauchs geschildert hat. Aus welchem Grund sollte der Therapeut einem Opfer etwas einreden? Selbst Akademikerinnen, denen man eigentlich eine hohe Intelligenz zutrauen kann, reagierten auf diese Weise.

EK Da werden dann perfide Lügen aufgetischt?

vH Opfer dieser Güteklasse greifen zu teilweise abstrusen Mitteln, um den bösen Therapeuten abzustrafen. Ich musste mehrfach erleben, dass Hinweise von mir, die eine Verbesserung der Lebensqualität hervorrufen sollten und auch hervorriefen, später als völlig anders dargestellt wurden.
Es ist mittlerweile auch in Ärztekreisen bekannt, dass z. B. eine wiederholt ausgeübte Masturbation bis zum Höhepunkt selbst eine lange bestehende Harninkontinenz lindern oder ganz beheben kann, da nur auf diese Weise Muskeln aktiviert und trainiert werden, die auf keine andere Weise erreicht werden können. Die Annahme dieses Hinweises ist natürlich absolut freiwillig. Anschließend wurde gerade dieser Hinweis von mir so dargestellt, als würde ich Frauen zur Masturbation zwingen.
Ein zweites Beispiel ist das Ausleben der Homosexualität. Ich habe Frauen dazu geraten, ihr Lesbischsein auszuleben, um glücklich zu werden. Viele verstecken diese angeborene Neigung, um nicht ausgegrenzt zu werden und leiden ihr Leben lang darunter. Seitdem wird behauptet, ich würde Frauen lesbisch machen oder zum Lesbensex zwingen, obwohl beides unmöglich ist.
Da es natürlich auch Medienmitarbeiterinnen gibt, die unter dem Prinzessinnensyndrom leiden, wird so ein Schwachsinn gern mal aufgegriffen, um dem bösen van Herste eins überzubraten. Wer sein Gehirn einschaltet, weiß natürlich, dass diese Behauptungen absolut realitätsfern sind. Aber sie fallen bei ebenfalls so tickenden Zeitgenossinnen auf goldenen Boden. Alles was dem eigenen Täter schaden könnte, muss vernichtet werden. Dass dabei Leben oder Karrieren oder das Ansehen einiger Personen zerstört werden, spielt keine Rolle. Der Sucht nach Aufmerksamkeit, nach der Liebe des Täters wird alles untergeordnet. Auch ein Drogensüchtiger würde für den nächsten Schuss seine Großmutter verkaufen, ein Alkoholiker stehlen und betrügen.

EK Und darum schweigen viele Opfer?

vH Ja. Sie werden lieber den Therapeuten an die Wand nageln, als den Täter. Sie werden nach außen hin immer behaupten, sie hätten eine schöne Kindheit gehabt. Sie werden nach außen hin den sexuellen Missbrauch von Kindern verdammen, um die allgemein gültige Meinung zu vertreten, um nicht aufzufallen, aber jeden vehement bekämpfen, der ihnen selbst zu nahe kommt.

EK Auch das haben Sie erlebt?

vH Ja. Da wettern Frauen gegen meine „Insel-Methode“, indem sie behaupten, die „Inseln“ und ich würden unprofessionell arbeiten. Muss jemand Diplom-Psychologe sein, um Fälle von Kindesmissbrauch aufzudecken? Müssen eine Oma oder eine Nachbarin wegschauen, nur weil sie nicht studiert haben? Mütter behaupten, sie könnten selbst am besten auf ihre Kinder aufpassen und obendrein gäbe es ja bekannte Institutionen, die sich um Opfer kümmern. Natürlich gibt es die. Aber sind die auch für ein junges Opfer erreichbar? Sind die im Dorf, im Stadtviertel, in der Schule oder im Sportverein anzutreffen?
Erst vor Kurzem wurde mir zugetragen, dass in dem Ort, in dem erklärt wurde, „Inseln“ seien unnötig und man würde selbst auf die Kinder aufpassen, ein Lehrer über viele Jahre hinweg seine Finger nicht im Zaum hielt und noch hält. Das ist allgemein bekannt, aber niemand unternimmt etwas dagegen.

EK Das ist doch nicht logisch.

vH Nein, natürlich nicht. Aber kommen sie mal Borderlinern mit Logik. Da stehen sie ganz schnell auf verlorenem Posten. Natürlich begreift eine Borderlinerin irgendwann, dass eine derartige Vater-Tochter-Beziehung nicht okay ist, aber sie wird weiterhin ihren Täter schützen und alles daran setzen, dass nichts an die Öffentlichkeit dringt, was ihm schaden könnte.
Viele Opfer arbeiten in pflegerischen Berufen. Eine Psychologin, die ihre Kindheitserlebnisse nicht aufgearbeitet hat, wird immer wieder versuchen, ihre betroffenen Klientinnen von dem Thema wegzubringen. Neulich erzählte mir eine Betroffene: „Meine Psychologin hat gesagt, ich müsse nicht jede Einzelheit meines Missbrauchs erinnern. Es sei besser, ein Pflaster auf die Wunde zu kleben und alles schnellstens zu vergessen. Dem Täter solle ich um Gottes Willen nichts erzählen. Der sei ja nun alt und krank und könne Schaden nehmen.“
Dieses Beispiel zeigt, dass sich die Psychologin mit ihrer Klientin identifiziert und das verhindern will, was sie selbst verhindert. Auf diese Weise werden Aufdeckung, Konfrontation, Bestrafung und Verhinderung neuer Übergriffe schon im Keim erstickt. Obendrein müsste die Psychologin ihre eigene Lebensweise in Frage stellen.
Ein Opfer, das seine Borderline-Störung loswerden will, muss sich erinnern, um zu erkennen, woher die psychischen Störungen kommen. Es sollte den Täter mit seinen Erinnerungen konfrontieren, um zu begreifen, dass dieser einst übermächtige Mann ihm heute nichts mehr tun kann, um zu sehen, wie feige und armselig so ein Mensch ist. Das Opfer muss begreifen, dass nicht Liebe im Spiel war, sondern nur blanker Egoismus. Dem Opfer muss klar werden, dass der Täter sein Leben zerstört, ein glückliches Dasein unmöglich gemacht hat. Der Täter muss zur Rechenschaft gezogen werden, um für seine Taten zu büßen und um weitere Übergriffe auf Kinder zu verhindern.

EK Gibt es solche unlogischen Verhaltensweisen auch in anderen Bereichen?

vH Na ja, für die oben erwähnte Psychologin ist ihr Verhalten wahrscheinlich nicht unlogisch. Sie müsste ja ihr ganzes Denken umstellen, wenn sie hinschaut. Ihr Leben, ihre kontrollierte Umwelt würde in sich zusammenstürzen.
Die Chance, dass Kindergärtnerinnen, Erzieherinnen, Lehrerinnen, Krankenschwestern oder Altenpflegerinnen mit einer Borderline-Störung ähnlich handeln, ist sehr groß. Auch sie werden eine Aufdeckung verhindern wollen, wenn sie ihre eigenen Erlebnisse nicht aufgearbeitet haben. Wie sonst kann es sein, dass bei der Fülle von Missbrauchsfällen so wenig aufgeklärt wird? Wie sonst kann es sein, dass Lehrer über Jahre hinweg ihr Unwesen treiben können? Und die Kollegen haben nichts bemerkt? Und in unserer Schule gibt es keine Opfer? Wir kennen alle Eltern und sind fest davon überzeugt, dass da nichts läuft? Wer soll das glauben? Jedes dritte Mädchen wird sexuell missbraucht, aber gerade an d e r Schule gibt es keine Opfer?

EK Ist nur das Borderline-Syndrom schuld am Schweigen der Opfer?

vH Nein. Es gibt natürlich auch Fälle, in denen die Opfer einfach nur Angst vor dem Täter haben oder der Meinung sind, man würde ihnen sowieso nicht glauben. Diese Fälle kommen – meiner Erfahrung nach und es gibt natürlich Ausnahmen – meistens vor, wenn Täter zum Zuge kommen, die nicht im familiären Umfeld angesiedelt sind. Internatslehrer oder Priester fallen eher in diese Kategorie. Diese Fälle werden dann auch eher öffentlich gemacht, da sie vom überwiegend praktizierten häuslichen Missbrauch ablenken sollen.
Obendrein gibt es Opfer, die im Erwachsenenalter eingesehen haben, dass sie ihren Vati wirklich selbst zum Übergriff animiert haben. Das sollte in meinen Augen aber kein Grund sein, zu schweigen, da ein Kind das vom Täter eingefädelte Vater-Tochter-Spiel nicht durchschauen kann, und es nur nutzt, um Aufmerksamkeit zu ergattern. Wenn Täter ins Feld führen, sie seien von ihrer Lolita-Tochter verführt worden, ist das eine Schutzbehauptung, die vom wahren Tathergang ablenken soll. Dem Opfer kommt niemals eine Schuld zu.

EK Gibt es noch mehr Fälle von Unlogik?

vH Ja, die gibt es. In Afrika beschneiden oder verstümmeln Frauen Mädchen und Frauen, obwohl sie selbst beschnitten oder verstümmelt wurden. Frauen rennen in die Kirchen, obwohl sie dort als Menschen zweiter Klasse behandelt werden. Frauen gehen auf die Straße, um gegen ein Gesetz zu demonstrieren, dass eine Ehe für Mädchen unter siebzehn verbietet. Frauen unterstützen ein Gesetz, dass vorsieht, Ehebrecherinnen zu steinigen. Frauen finden es normal, dass sie bei gleicher Arbeit weniger Geld verdienen als Männer. Frauen bekämpfen sich gegenseitig, anstatt zusammenzuhalten und für ihre Rechte einzutreten. Sie unterstützen Gesetze und Lebensformen, die von Männern gemacht, nur dazu dienen, diesen ein bequemes Leben zu ermöglichen. Über die Hälfte der Weltbevölkerung nimmt hin, dass sie von der Minderheit geknechtet wird, anstatt ihre Geschicke selbst in die Hand zu nehmen. Kann man da von Logik reden?
Wenn ein Mensch in einem solchen Umfeld aufwächst, von Kindesbeinen an nichts anderes erlebt, über Jahre hinweg indoktriniert wird, glaubt er, dass sein Leben normal verläuft und wird alles andere in Zweifel ziehen. Dadurch macht er den Verursachern der Misere das Leben leicht und unterstützt deren Treiben sogar noch. Wie sonst könnte man erklären, dass ganze Dörfer, ganze Glaubensgemeinschaften einen oder mehrere Täter schützen.
Tausende Jahre Patriarchat haben ihre Spuren hinterlassen, sich eingefressen in die Denk- und Lebensweise der Frau. Und ich denke nicht, dass ich eine Änderung noch erleben werde, obwohl man ja die Hoffnung nicht aufgeben soll.

EK Herr van Herste! Vielen Dank für das aufschlussreiche Gespräch

Heinweis
Weitere Interviews mit Hans Georg van Herste finden Sie im Internet oder in meinem Buch „Das Glück liegt in der Streichholzschachtel“. Wenn sie die Insel-Methode kennen lernen möchten, besuchen Sie bitte die Seiten www.van-herste.de oder www.transborderles.de

Buchtipps

Elisabeth Keller
Das Glück liegt in der Streichholzschachtel – Taschenbuchausgabe
ISBN: 9783839123966
96 Seiten
6,80 Euro

Hans Georg van Herste
Das Borderline-Syndrom – Taschenbuchausgabe
ISBN: 9783837095593
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Das Mutter(un)tier – Taschenbuchausgabe
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Herstes Liste – Taschenbuchausgabe
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