Gedanken zum Unglück an der Albertville-Realschule in Winnenden

Das Ausmaß des Unglücks in Winnenden ist für uns alle unfassbar, weil es jede Vorstellung sprengt und den Blick in unendliches Leid freigibt, die das Leben/wir Menschen zu erzeugen in der Lage sind. Es gibt die Möglichkeit ein solches Ereignis schicksalsergeben als Teil des Lebens anzunehmen, aber es gibt auch die Möglichkeit die Intensität und das Betroffensein der Stunde zu nutzen, um sich über den Tag hinaus reichende Gedanken zu machen.
Wir sind eine Ellbogengesellschaft, die propagiert, dass es sich lohnt, sich ausschließlich für sich selbst einzusetzen. Unser Bildungssystem ist nach wie vor auf Selektion angelegt. Liegt es dann aber nicht im System, dass sich Menschen ausgeschlossen und entwertet fühlen und eventuell so etwas wie Rachegedanken entwickeln oder der besonderen öffentlichen Bedeutung bedürfen?
Selbstverständlich ist es für eine Gesellschaft wichtig, dass persönliche Leistung einen Wert hat. Bedarf es aber nicht auch der gesellschaftlichen und individuellen Verantwortung im Hinblick auf die Art des Umgangs den wir miteinander pflegen?
Wie sieht es aus mit Menschlichkeit, Aufmerksamkeit, Wertschätzung, Achtsamkeit oder mit Herzensbildung in der Schule? Es wird viel von Werte- und Lerngemeinschaft gesprochen, wird sie aber immer auch gelebt?
Ist es wirklich so, dass auch der schwache Schüler Anerkennung und Bestärkung erfährt? Leben wir nebeneinander her oder interessieren wir uns füreinander?
Gibt es unter dem Globalisierungsdruck überhaupt noch Rücksichtnahme für Schwächere? Nimmt der Lehrer/die Lehrerin den/die einzelne/n Schüler/in überhaupt wahr in ihrem selbst erlebten Lebenszusammenhang?
Ein schlechter Nährboden scheint mir auch die immer noch vorherrschende Misstrauenskultur zu sein, die weitgehend die Bildung der jungen Menschen bestimmt. Sind Kinder/Jugendliche wirklich von Natur aus faul? Spiegelt das nicht das Selbstbild der älteren Generation wieder, die tatsächlich weitgehend von sich dachte, wenn ich nicht dazu angehalten würde, würde ich nichts tun? Wir denken, wenn wir nicht kontrollieren, anhalten, einfordern, wenn wir nicht gängeln und zurechtstutzen, dann wird nichts gelernt. Unser ganzes Bildungssystem ist eigentlich auf eine Kultur des Misstrauens aufgebaut. Auch wird in der Schule eher Gleichförmigkeit denn Vielfältigkeit gefördert und gefordert.
Ist es wirklich angemessen, dass wir uns die Schüler/innen weitgehend verwaltungstechnisch denken, als Bildungskonsumenten, die das und das formal geistig aufnehmen und verzehren sollen .Statt dessen könnten wir auch ihr Interesse wecken oder sie ermutigen, eigene Grenzen zu überschreiten. Dass das ewige Gleichmaß des Lerntempos auch kräfteraubend und demotivierend wirkt, wird offensichtlich nicht gesehen. Keiner kann wirklich vorauseilen und keiner kann mal so richtig anständig zurückbleiben, dass er eine wirkliche Grenzerfahrung macht. Selten genug werden Lernräume so angelegt, dass Jugendliche ihre geballte Energie da hinein einbringen und sich austoben können. Bildung könnte mehr Spaß machen, wenn sie sich mehr mit den persönlichen Bedürfnissen verbinden würde und nicht immer nur als ein Bildungsanspruch in Erscheinung treten würde, der die Kinder überformen möchte ohne Rücksichtnahme auf die Lebenskräfte, die sie mitbringen. Ihre Dynamik, ihre Art, wie sie der Welt Bedeutung geben wird oft einfach ausgeblendet.
Es wird eine Messlatte gelegt und dann aufgepasst, dass alle darüber springen, wie sie es tun, ob sie davon profitieren, das ist dann meist nicht wirklich erkennbar und offensichtlich auch nicht wirklich wichtig.
Lernen kann eigentlich heute unmöglich mehr gleichgesetzt werden mit Belehrt-werden. Es braucht heute vielmehr ein bildendes Lernen, das das Lernen als aktiven selbst organisierten Prozess versteht. Soll das Lernen zum Weltverstehen, zum Selbstverstehen und zur Weltgestaltung beitragen, darf es nicht nur aus verpflichtend zu lernenden (exemplarischen) Lernstoffen bestehen. Vielmehr müssen die Schüler/innen in der Schule angemessen Zeit und Gelegenheit bekommen, um sich selbst mit ihren Interessen und Fragen, ihrer Neugier und ihren Problemen einzubringen. Dazu benötigen sie curriculare Freiräume, Situationen und Anlässe, Anregungen und wählbare Lernangebote, um sich dabei und daran bilden zu können. Das spezifische Merkmal des menschlichen Lernens ist die Bedeutsamkeit des zu Lernenden für den Menschen selbst. Er will den Sinn des Lerninhalts wissen und verstehen, sei es dass er ihn selbsttätig entdeckt ( d.h. Konstruktion von Erfahrungen, Selbsterfahrung), sei es dass er sich verstehend den Sinn nachbildet, den andere dem Lerninhalt gegeben haben (d.h. Rekonstruktion von Erfahrungen anderer, Übernahme von Fremderfahrungen), sei es dass er auf Veranlassung von Sachverhalten oder Menschen seine Wissensbestände und Einstellungen modifiziert (d.h. Dekonstruktion eigener Erfahrungen). Der Mensch lernt also entweder sinnvoll entdeckend oder sinnvoll rezeptiv.
Der Mensch muss heute Bildung als bewusste Form der Selbstbildung annehmen und die volle Verantwortung übernehmen, auch wenn er einen Mentor oder modern gesagt, einen ‚Instrukteur’, an der Seite hat. Er muss mitformulieren helfen, welche Form von Lernräumen er jetzt gerade braucht und diese dann auch mitgestalten bzw. sich mit größtmöglicher Intension in vorbereitete Lernräume einbringen.
Schule, Schulleitung, Lehrerkollegien, Eltern und Schüler müssen sich auf die erforderliche neue Qualität des Lernens verständigen, die auf die Anforderung des lebenslangen Lernens und des zukunftsgerichteten kreativen Umgangs mit Wissen vorbereitet, und sie müssen sich auf ihre neuen Rollen und Verantwortlichkeiten in diesem neu definierten Lernarrangement gemeinsam verständigen. Wenn sich alle beteiligten dabei unterstützen und unterschiedliche Tempi respektiert werden, dann kann Schule zur Friedensbildung in der Welt einen Beitrag leisten.

Joachim Armbrust
Autor des Buches: „Kinder bewältigen ihre Angst - So können Eltern helfen“, erschienen im Urania Verlag
Praxis für Psychotherapie, Paartherapie,
Coaching, Mediation und Prozessgestaltung
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