Vor dem Abgrund

Es bedurfte nicht des fortdauernden Raketen- und Mörserbeschusses israelischer Ortschaften und der heftigen Luftangriffe im Gazastreifen, um den Irrsinn der Gewalt im israelisch-palästinensischen Konflikt zu beweisen. Seit Jahrzehnten wiederholt sich die Spirale eines Wahnwitzes, der sich aus der Überzeugung nährt, dass man den Feind mit militärischen Mitteln vernichten könne – entgegen allen Erfahrungen. Die israelische Führung hat die verbleibende Amtszeit von George W. Bush für ihre Operation „Gegossenes Blei“ genutzt, während „Hamas“ auf die Erfahrungen der libanesischen „Hisbollah“ vom Sommer 2006 vertraut, die palästinensische Bevölkerung in beiden Teilen des Landes im Kampf gegen Israel zu einen. Für den damals entführten Feldwebel Gilad Shalit dürfte es das Todesurteil sein.

Und dennoch trägt die jüngste Eskalation eine kaum zu übertreffende Dramatik in sich. In ihr spiegelt sich die Niederlage der politischen Diplomatie wieder. Denn sie beendet, was in aller Welt seit den Osloer Vereinbarungen von 1993/1995 mit dem Friedensprozess verbunden worden ist: die Etablierung des Staates Palästina an der Seite Israels. Nicht dass die Regierenden auf diese Zielvorstellung künftig verzichten werden, doch sind sie es gewesen, die für den politischen Scherbenhaufen die direkte Verantwortung tragen. In Jerusalem hat man geglaubt, durch den Boykott von „Hamas“ die palästinensische Bevölkerung im Gazastreifen zur Revolte veranlassen zu können. In Ramallah vertraute man darauf, dass Ergebnisse des diplomatischen Gebens und Nehmens den Extremisten im eigenen Lager den Wind aus den Segeln nehmen würden. Die Islamische Widerstandsbewegung schließlich zeigte sich davon überzeugt, dass sie den internen Spagat zwischen politischem Pragmatismus und militärischem Widerstand auf Dauer kontrollieren könne. Alle diese Erwartungen sind von Grund auf widerlegt worden. Mehr noch: Sie haben in eine Sackgasse geführt, aus der es keinen Ausweg der Vernunft zu geben scheint. Die Palästinenser und die Israelis stehen vor Wahlen, bei denen sich – sollten sie tatsächlich zustande kommen – die radikalen Kräfte durchsetzen werden. Die der Regierung Ehud Olmerts permanent nachgesagte Schwäche reicht allemal zu Bombardements und Truppeneinsatz aus. Abzusehen ist, dass dem neuerlichen Triumph der militärischen Option die Siedlungspolitik einem neuen Höhepunkt zutreiben und der Bau der „Trennungsmauern“ tief in der Westbank forciert werden.

Unter den Palästinensern steht der gegenwärtige Präsident Machmud Abbas vor dem Offenbarungseid seiner Ohnmacht. Die Bereitschaftserklärung, nach der Ausschaltung der „Hamas“ die Macht im Gazastreifen zu übernehmen, verstärkt den Vorwurf der Verschwörung mit dem Feind weiter. Die ersten Erfolge bei der Herstellung von Recht und Gesetz sowie bei der Hebung des Lebensstandards in Teilen der Westbank dürften geringe Überlebenschancen haben. Hier wie im Gazastreifen werden die israelischen Bombardements breite Solidarisierungseffekte auslösen. Der von Ariel Sharon im Sommer 2005 einseitig inszenierte Abzug aus dem Gazastreifen hat „Hamas“ zu einem billigen Sieg verholfen, den Ägyptens Präsident Hosni Mubarak nicht kontrollieren kann – wenn er es denn wollte im Angesicht der Moslembrüder im eigenen Land. Der Antagonismus zwischen den palästinensischen Parteiungen erweist der nationalen Sache einen Bärendienst.

Mit dem verheerenden Gewaltausbruch, dem israelischerseits die bekannte Unverhältnismäßigkeit des Mitteleinsatzes anhaftet, sind auch die heiklen Beziehungen zwischen Juden und Arabern in Israel einer dramatischen Belastungsprobe ausgesetzt. Was sich in Spannungen in den vergangenen Monaten in Akko und im arabischen Teil Jaffas bereits abzeichnete, birgt allerorten den Keim katastrophaler Zuspitzungen in sich. Verhaftungen von „Umstürzlern“ werden sie nicht aus der Welt schaffen. Die Massendemonstration im nordisraelischen Sakhnin am 3. Januar 2009 – nach israelischen Medienangaben die größte seit Gründung des Staates – lässt die Gefahren erahnen. Im Verbund mit der Empathie für die palästinensische Bevölkerung im Gazastreifen, sieht sich Israel mit unüberhörbaren Forderungen nach kultureller, ja nach politischer Autonomie konfrontiert. Die seit Jahren von allen israelischen Regierungen angekündigten Maßnahmen gegen die individuelle und kollektive Unterprivilegierung der arabischen Bevölkerung haben sich erledigt. Ihr geht es mittlerweile um mehr als um die Integrität ihrer Lebensräume, um gerechte soziale Dienstleistungen und um bessere Bildungschancen.

Die schwersten Vorhaltungen verdient jedoch die „internationale Staatengemeinschaft“. Jetzt rächt es sich, dass sie über rhetorische Bekenntnisse zur Zweistaatenregelung sowie zur Absage an Terrorismus und Siedlungspolitik nicht hinausgekommen ist. Stattdessen begnügte sie sich seit Yasser Arafats Zeiten mit großzügigen Finanztransfers an die Palästinensische Autonomiebehörde, die natürlich auf eine Parteinahme gegen „Hamas“ – und gegen 1,5 Millionen Menschen – hinauslief, und vergaß darüber in geradezu sträflicher Vernachlässigung die eigenen Ansprüche: nachdrücklich den Ausbau der Beziehungen zu Israel und die Unterstützung der Palästinenser mit politischer Substanz zu begleiten und sie unter die Bedingung politischer Fortschritte zu stellen. Dass ein von der französischen Ratspräsidentschaft im November 2008 verfasstes EU-Dokument mit Forderungen zur Zukunft Jerusalems und zum Einfrieren aller Siedlungsaktivitäten auf Betreiben Tsipi Livnis sang- und klanglos zurückgezogen wurde, weil die Zeit dafür nicht reif sei, unterstreicht freilich die diplomatische Schwäche Europas – und die beschränkte Aufklärungsfähigkeit seiner Geheimdienste, den von langer Hand vorbereiteten Militärschlag im Gazastreifen einzuschätzen.

So überrascht denn nicht, dass Israels Regierung die europäischen Minimalforderungen nach sofortiger Waffenruhe und nach Einleitung humanitärer Hilfen für die palästinensische Bevölkerung brüsk zurückgewiesen hat. Doch im Gegensatz zu Berlin, dass sich mit seiner Absage an „Hamas“ in Schlepptau der israelischen Regierung bewegt und dafür den Vorwurf des diplomatischen Immobilismus in Kauf nimmt, reklamiert Frankreich die europäische Führungsrolle für sich, wenn sich Staatspräsident Nicolas Sarkozy um die Vermittlung eines Waffenstillstands bemüht. Insgesamt gesehen, dürfte es sich jedoch nicht mehr als um ein Gerücht handeln, wonach die Europäer die Bemühungen um einen Frieden in Nahost ganz oben auf ihre diplomatische Agenda gesetzt haben sollen, nachdem sie es nicht einmal geschafft haben, die Bewegungsfreiheit der Palästinenser als Voraussetzung des ökonomischen Wiederaufbaus durchzusetzen, wie die Weltbank verlangt hat.

Da sich die Regierung in Jerusalem und „Hamas“ systematisch bislang jeder Einflussnahme von außen entziehen wollen, werden die Barack Obama allseits zugeschriebenen messianischen Kräfte das elementare Versagen des „Quartetts“ kaum kompensieren können. Dazu bedürfte es einer massiven Intervention Washingtons, mit der angesichts des enormen Drucks nicht zu rechnen ist, die globale Banken-, Finanz- und Wirtschaftskrise einzudämmen. Im Irak und in Afghanistan stehen eigene Soldaten in einem aussichtslosen Kampf, der die Kräfte bindet. Die Eindämmung Irans dürfte vor allem darauf abzielen, die Nuklearisierung des arabischen Raums abzuwenden. Deshalb wird auch die neue Administration den Entwicklungen im israelisch-palästinensischen Konflikt regelmäßig hinterherhinken – es sei denn, ihr gelänge das Kunststück, jene jüdischen Berater mit Nahost-Erfahrung und strategischem Blick einzubinden, für die die israelische Politik selbstzerstörerisch ist und die gesamte Region mit sich in den Abgrund reißt. Israel könne, so lautet ihr Credo, nicht auf Dauer allein auf seine Bajonette vertrauen. Henry Kissingers bekannte Prognose aus den 1970er Jahren, dass sich die US-Nahostpolitik an der Zustimmung der amerikanischen Juden entscheiden werde, käme einem Schrittmacherdienst gleich, wenn Dennis Ross, Martin Indyk, Aaron David Miller, Daniel C. Kurtzer, Robert Malley, Richard C. Holbrooke und Richard N. Haass, der im Januar als Sonderbeauftragter der neuen Administration für Nahost ins Gespräch gebracht wurde 1 , ihr diplomatisches Gewicht unisono ins State Department einbringen könnten; sie würden eine jüdische Lobby der anderen Art begründen (2) . Mitchell Plitnick, der Direktor der amerikanischen Sektion der israelischen Menschenrechtsorganisation „B’tselem“ („Im Angesicht“, Gen. 1,17), schrieb in einem Offenen Brief an Obama:

„It is time for the United States to stop talking about being Israel’s good friend and start acting like it. That means not only supporting Israeli security, it means helping Israel comply with its commitments and its obligations to international law and to upholding human rights standards. It’s time for a new and more sincere kind of ‘pro-Israel’ president, one who will not allow his friends to follow a path of moral self-destruction any more than he will allow them to face danger without his strong support. And one who recognizes that human rights are universal and equal.”

Mitte Juni 2008, der Jahreskongress des „American Israel Affairs Committee” (AIPAC)” war gerade zu Ende gegangen, hielt Marc Gopin, die Zeit für die Entscheidung gekommen, was genau „pro-Israel“ meine und ob die Politik seines Landes Israel sicherer gemacht habe. Ist es, fragte der Lehrstuhl-Inhaber für Weltreligionen, Diplomatiegeschichte und Konfliktlösung in Washington, D.C., tatsächlich nicht eine anti-israelische Position, die jüdische und palästinensische Kinder auf dem Altar selbstzerstörerischer Ängste und Unversöhnlichkeiten opfere?

Im Januar 2009 zeigte sich der Kolumnist der „International Herald Tribune“ Roger Cohen davon überzeugt, dass, wie auch immer der Beraterkreis des künftigen Präsidenten zusammengesetzt sei, einige fundamentale Fragen gestellt werden müssten. Zu ihnen zählten,
– ob der Nahe Osten fast ausschließlich durch das Prisma des Krieges gegen den Terrorismus betrachtet werden müsse,

– ob die Blindheit gegenüber der israelischen Siedlungspolitik die Zweistaatenlösung beeinträchtige,

– ob die israelische Blockade des Gazastreifens seine Bevölkerung radikalisiere und das US-Interesse an der Stärkung der moderaten Palästinenser unterminiere und

– ob die US-Politik sich nicht auf die innerpalästinensische Versöhnung richten solle, ohne die ein Endstatus-Frieden nicht möglich sei?

All diese Fragen würden nichts an den Verpflichtungen gegenüber der Sicherheit Israels ändern, aber sie würden signalisieren, dass der schädliche Konsens der Bush-Ära, wonach Israel nichts Schlechtes tun könne, herausgefordert würde. Mit den vielen hundert toten palästinensischen Kindern im Gazastreifen habe die israelische „Verteidigung“ die Linie überschritten. Jedenfalls müsse Obama darauf achten, dass ihn sein Beraterteam nicht in die Zukunft zurückführe (3) .

Mit einem „radikalen Pragmatismus fünf nach 12“, so die Forderung von Thomas L. Friedman an die Adresse der amerikanischen Administration, die sich von der „tödlichen Mixtur aus Arroganz und Ignoranz“ verabschieden müsste, die nach den Worten von Hussein Agha und Robert Malley für die Bush-Ära charakteristisch war, sei zwar der israelisch-palästinensische Antagonismus, der sich aus eigenen Quellen nährt, noch nicht aus der Welt geschafft, aber damit wäre gegenüber der Regierung in Jerusalem das Signal für eine neue politische Kultur der künftigen Konfliktbewältigung gesetzt, dem sich die Palästinenser nicht entziehen können. Die jüngsten Veröffentlichungen von Miller, Kurtzer/Lasensky und Indyk sollten von den politischen Analysten und von der ObamaAdministration gelesen werden, bevor sie von Bush die Verantwortung übernehmen, empfehlen die Autoren Agha und Malley.

Der Neuansatz in der US-amerikanischen Nahostpolitik würde jene vor allem in Deutschland verbreitete fatale Solidarität mit jenen Kräften Israels, die seit langem den Frieden mit den palästinensischen Nachbarn hintertreiben, und die angebliche Angst vor dem Antisemitismus-Vorwurf ad absurdum führen, die sich in der Klage gefällt, man dürfe doch nichts gegen Israel sagen – um eilends jene rhetorischen Arsenale in Stellung zu bringen, die allzu gern in die Rolle von Opfern der Juden flüchtet. Bleibt indes in Washington und in den europäischen Hauptstädten die Wende zu einem „völlig anderen Drehbuch“ (Agha/Malley) aus, werden sich die „hardliner“ in Israel und unter den Palästinensern im festen Glauben wiegen, dass ihnen alle Optionen zur Verfügung stehen, den Nahen Osten dem Abgrund zuzutreiben.

Washingtons befürworte, die gemäßigten Kräfte im Gazastreifen zu stärken. Dass ein Sprecher des Obama-Teams solche Absichten dementiert hat – Obama aide denies report he will launch a low-level contact with Hamas, in „Haaretz“ 10.01.2009 –, sollte nicht verwundern.

(2) Am 13.01.2009 berichtete der SZ-Korrespondent Reymar Klüwer aus Washington, dass Holbrooke der neuen Außenministerin Hillary Clinton als Sonderberater für Pakistan und Afghanistan sowie Ross als Chefberater für Iran dienen würden. Für den israelisch-palästinensischen Konflikt seien für diese Aufgaben Haass oder Kurtzer im Gespräch.

(3) Robert Cohen: Mideast dream team? Not quite, in „International Herald Tribune” 11.01.2009.

Dr. Reiner Bernstein, näheres unter: http://www.genfer-initiative.de/


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