Muss man zur Wahl?

Ist der Gang zur Urne Wahl oder Pflicht?

Muss man zur Wahl?

Formal ist die Sache klar: Zur Wahl zu gehen ist in Deutschland ein staatsbürgerliches Recht. Eine Pflicht, den Wahlgang anzutreten, besteht nicht, zumindest keine gesetzliche. Andernorts ist dies bekanntlich anders. In immerhin 32 Ländern weltweit Ist Wahl Pflicht, teilweise sanktionsbewehrt, teilweise nicht. Italien, Luxemburg und Belgien haben Wahlpflicht, Australien und Neuseeland ebenfalls, die Türkei und viele Länder Lateinamerikas auch. Die Gründe für das Bestehen einer Pflicht zur Wahl sind verschieden; in vielen Ländern ist etwa das Wählerregister ein Instrument des Einwohnermeldewesens.

Wahlpflicht oder Wahlrecht

Bei unseren Nachbarn in Österreich bestand bis 1992 (in einigen Bundesländern bis 2004) Wahlpflicht, weil bei Einführung des Wahlrechts für Frauen 1918 die damalige konservative Regierung befürchtete, dass konservative Wählerinnen sonst nicht zur Wahl gehen würden - im Gegensatz zu ihren sozialdemokratischen Schwestern. Der rechtschaffende konservative Österreicher (oder die entsprechende gesellschaftliche Konvention) hätten die rechtschaffende konservative Frau daran hindern können, zur Wahl zu gehen und ihr Kreuz bei den Schwarzen zu machen.

Wen wählen?

Aber zurück in die deutsche Gegenwart kurz vor der Bundestagswahl: Haben wir, wenn schon keine gesetzliche, so dann doch eine gut-staatsbürgerliche Pflicht, zur Wahl zu gehen? Oder haben wir nicht nur auf dem Stimmzettel, sondern bereits davor die freie Wahl? Was ist - vielleicht kennen Sie diesen Gedanken - wenn mir keine der antretenden Parteien ein Wahlangebot gemacht hat, das ich wahrnehmen möchte? Was, wenn sich überdies in diesem sogenannten Wahlkampf kein Kandidat um mich, den Wähler, soweit bemüht hat, dass ich ihm oder ihr vielleicht deshalb mein Kreuzchen gebe, weil ich wenigstens einen ernst gemeinten Versuch erkennen kann, mich zur Wahl zu bringen? Sind das eigentlich banale Fragen?

Trotzdem zur Wahl?

Argumente wie die hier angeführten brachten mich kürzlich in einer Diskussion mit politisch engagierten Mitmenschen dazu, zu bekennen, dass ich - wollte ich meiner eigenen Überzeugung Folge leisten - diesmal eigentlich der Wahl fern bleiben müsste. Ich erntete vernichtende Blicke und die Erwiderung, dass dies ja wohl kein denkender Mensch ernsthaft tun könne. Weil gegen die eigene Überzeugung handeln in diesem Fall besser ist, als zu Hause zu bleiben? Warum aber sollte das so sein? Weil die Demokratie nicht funktioniert, wenn zu viele Staatsbürger ihr Wahlrecht nicht ausüben? Ist das der Fall? Vielleicht. Jedenfalls ist die hinter diesem Totschlagargument stehende Überzeugung zwar höchst abstrakt, aber nicht einfach abzuschmettern. Gehe ich also zur Wahl? Ich weiß es nicht.

Andreas Kellner

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