Die Zeit der Ausflüchte und der Verharmlosungen ist vorbei – „Sexuelle Gewalt gegen Mädchen und Jungen in Institutionen“

Abschlussbericht
des DJI-Projekts im Auftrag der Unabhängigen Beauftragten zur Aufarbeitung des sexuellen Kindesmissbrauchs, Dr. Christine Bergmann
1 Einleitung
1.1 Das DJI-Projekt „Sexuelle Gewalt gegen Mädchen und Jungen in Institutionen“ im gesellschaftlichen Kontext
Nach einer langen Phase des Schweigens, der Sprachlosigkeit, des Wegschauens und des Nicht-für-möglich-Haltens ist sexuelle Gewalt zu einem Thema der Öffentlichkeit, der Medien, der Fachwelt und nicht zuletzt der Politik geworden. Das Canisius-Kolleg in Berlin, das badische Kolleg St. Blasien, die Klosterschule Ettal bei Garmisch-Partenkirchen, die Odenwaldschule in Heppenheim: Sie alle stehen stellvertretend und besonders prominent für eine Welle der Aufdeckung sexueller Gewalt gegen Mädchen und Jungen in Institutionen. Die unzulänglichen Versuche, die Folgen und Traumatisierungen des erfolgten Missbrauchs in den Einrichtungen diskret und intern zu regeln, haben durch die anhaltende öffentliche Berichterstattung ein Ende gefunden. Die Zeit der Ausflüchte und der Verharmlosungen ist vorbei. Viele Opfer haben oft erst nach vielen Jahren oder gar Jahrzehnten den Mut und die Sprache gefunden, ihre Erfahrungen mitzuteilen, die Mauer des Schweigens zu durchbrechen. Davon zeugt insbesondere die Auswertung der Anrufe bei der Anlaufstelle der Unabhängigen Beauftragten (UBSKM 2011, S. 40f.). Aus Gerüchten und Mutmaßungen, aus Verdächtigungen und Zweifeln sind damit Gewissheiten geworden, aus Einzelfällen wurde ein ganzes Geflecht des anhaltenden Missbrauchs in Institutionen sichtbar. Diese Initialzündung hat zu einem Dammbruch geführt. Nach einer ersten Phase der Schockstarre und des ungläubigen Befremdens über das in diesem Ausmaß nicht für möglich Gehaltene ist eine neue Kultur der Versprachlichung, des Hinsehens und der öffentlichen Konfrontation entstanden.
Es gibt viele Gründe, warum sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche in Institutionen als gelegentliche Übergriffe pädosexueller Einzeltäter abgetan wurde. Einrichtungen, die der Erziehung und Bildung dienen, die psychosoziale und gesundheitliche Versorgung und Vorsorge sicherstellen und die Freizeitangebote aller Art vorhalten, können auf einen Vertrauensvorschuss bauen. Kaum jemand hat in Betracht gezogen, dass sexuelle Gewalt durch Professionelle oder ehrenamtlich Tätige ausgeübt werden kann. Umso größer sind nach bekannt gewordenen Aufdeckungen die Verunsicherung und der Vertrauensverlust in die Institutionen und Personen, die eigentlich sichere Orte für Kinder und Jugendliche garantieren sollen. Es besteht ein Vertrauensverlust von Kindern und Jugendlichen in Betreuungspersonen, ein Vertrauensverlust von Eltern in die Institutionen und die darin Tätigen, ein Vertrauensverlust von verantwortlichen Behörden in die Einrichtungen.
Brisanten Problemen droht, dass sie tabuisiert werden. Sie lösen Angst und Scham aus, und aus Gründen des Selbstschutzes werden sie lieber verleugnet. Die darauf bezogenen Diskurse benötigen lange, um aus der Tabuzone in den öffentlichen Bereich zu kommen, um Arbeitsfelder dafür zu professionalisieren und um in Forschung und Entwicklung zu investieren.
Dass dieses Thema jedoch nicht gleich wieder nach dem ansonsten üblichen kurzen Medienhype von der Tagesordnung verschwunden ist, ist vor allem ein Verdienst der „Unabhängigen Beauftragten zur Aufarbeitung des sexuellen Kindesmissbrauchs“ (UBSKM) (vgl. www.beauftragte-missbrauch.de), Dr. Christine Bergmann, der ehemaligen Berliner Frauensenatorin und Bundesfamilienministerin. Sie arbeitete unabhängig vom Runden Tisch, hat aber für ihn Empfehlungen entwickelt, und fungierte als direkte und unabhängige Ansprechpartnerin für Betroffene, aber auch für Personen, die Missbrauch an Kindern und Jugendlichen aufdecken wollen. Sie hat beharrlich mit einem kleinen, aber sehr aktiven Team in wenigen Monaten ein Paket am Maßnahmen und Aktivitäten geschnürt, um dieses Thema in einer nachhaltigen Form im öffentlich-politischen Raum zu platzieren. Der große Erfolg der „telefonischen Anlaufstelle“, die von ihr initiierte Kampagne „Sprechen hilft“, die Gespräche mit den Betroffenen, der Einbezug der Expertise von PsychotherapeutInnen und -therapeuten und auch die von ihr (in Kooperation mit dem BMBF) in Auftrag gegebene und hier vorgelegte Studie des Deutschen Jugendinstituts zur sexuellen Gewalt gegen Mädchen und Jungen in Institutionen: All das trägt dazu bei, dass das Unsagbare, das Verborgene, das Unangenehme Ausdrucksformen, Orte und Foren gefunden hat, unterfüttert mit wissenschaftlicher Expertise, mit Daten und Fakten, jenseits aller auch manchmal lähmenden Betroffenheit. Die im Abschlussbericht der Unabhängigen Beauftragten zur Aufarbeitung des sexuellen Kindesmissbrauchs zusammengefassten Erfahrungen und Erkenntnisse der unterschiedlichen Aktivitäten, in die auch die Befunde der hier vorliegenden Studie einbezogen sind –, bilden die Basis für die Empfehlungen an den Runden Tisch zur Aufarbeitung sexueller Gewalt.
Die Studie des Deutschen Jugendinstituts, deren Ergebnisse hier vorgestellt werden, wurde von der Unabhängigen Beauftragten gleich zu Beginn ihrer Amstzeit vor dem Hintergrund vergeben, dass Erkenntnisse aus einem solchen Projekt ein wichtiges Element der von ihr angestoßenen Maßnahmen zur Aufarbeitung sein würden. Sie hatte zum Ziel, die aktuellen Erfahrungen von ausgewählten pädagogischen Einrichtungen mit sexualisierter Gewalt zu untersuchen. Das Projekt, das von der Unabhängigen Beauftragten und vom Bundesministerium für Bildung und Forschung finanziell gefördert wurde, hatte eine Laufzeit von einem guten Jahr, vom 1.7.2010 – 31.7.2011. Es folgte einem multidimensionalen Forschungsansatz und bearbeitete das Thema in Form von drei Modulen:
1. Literaturexpertisen zum Forschungsstand zu sexueller Gewalt und Aufarbeitung der aktuellen Praxisdiskurse,
2. Standardisierte Institutionen-Befragung in Schulen, Internaten und stationären Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe zum Umgang mit sexueller Gewalt,
3. Fokusgruppen mit von sexueller Gewalt Betroffenen als auch mit Personen, die in unterschiedlichen Bereichen und Professionen mit sexueller Gewalt befasst sind.

Sexuelle Gewalt hat auch in den damaligen Orthopädischen Anstalten Volmarstein, heute Evangelische Stiftung Volmarstein, in den drei Nachkriegsjahrzehnten stattgefunden. Aus diesem Grunde hat die „Freie Arbeitsgruppe JHH 2006“ (FAG JHH 2006) ihren Pressesprecher Klaus Dickneite zum „Runden Tisch sexueller Missbrauch“ entsandt. Ebenfalls war Herr Dickneite in Arbeitsgruppen verschiedener Ministerien aktiv, die das Thema der rechtlichen Umsetzung von Forderungen der Opfer bearbeiteten. Die FAG JHH 2006 hat sich bei der Tischvorsitzenden Christine Bergmann dafür eingesetzt, dass Untersuchungen zum Thema „Sexuelle Gewalt gegen Mädchen und Jungen“ nicht nur in Bezug auf Einrichtungen der Erziehungshilfe, sondern auch auf solchen der Behindertenhilfe durchgeführt werden. Zu diesem Zweck haben die Arbeitsgruppenmitglieder Marianne Behrs und Helmut Jacob ein etwa vierstündiges Gespräch mit der Autorin dieses Abschlussberichtes geführt. Die Ergebnisse dieses Gespräches sind in diese Arbeit eingeflossen. Der Arbeitsgruppe ist bekannt, dass neben der auf ihrer Homepage angedeuteten oder klar beschriebenen sexuellen Gewalt weitere sexuelle Übergriffe zwischen Mitarbeitern des Hauses und behinderten Schulkindern, aber auch sexuelle Misshandlungen unter den Schülern stattgefunden haben. Da dieses Thema in der Öffentlichkeit tabuisiert wird, konnten weitere schriftliche Aufzeichnungen nicht angefertigt werden. Auch gilt es, zu verhindern, dass Opfer in Konfrontation mit den Geschehnissen erneut traumatisiert werden.
Es wird zunehmend stärker deutlich, dass in den Orthopädischen Anstalten Volmarstein neben der psychischen und physischen Gewalt das Thema sexuelle Gewalt gleichrangig stehen müsste.
Sexuelle Übergriffe, so wurde von drei ehemaligen Schülern und einer ehemaligen Schülerin berichtet, haben sich nach der Schulzeit in der Ausbildung fortgesetzt.

http://gewalt-im-jhh.de/hp2/Abschlussbericht_Sexuelle_Gewalt_02032012.pd...