Oberammergau noch immer unter Antisemitismus-Verdacht

Anti-Defamation League verlangt weitere Eingriffe in das Passionsspiel

Die New Yorker „Jewish Tribune“ empörte sich über die Oberammergauer Passionsspiel-Aufführungen des Jahres 1930: Das Hauptziel des Passionsspiels bestehe darin, „das Christentum aufzuwerten, indem das Judentum in den Schmutz gezogen wird, die Christen emporzuheben, indem die Juden mit Dreck beworfen werden“. Das „Chicago Journal“ pflichtete dem bei: „Insofern, als das Passionsspiel den Hass auf die heutigen Juden schürt und in den Köpfen der ungebildeten Masse ein schmähliches Bild des Judentums entstehen lässt, hat die ‚Jewish Tribune’ Recht: Das Passionsspiel verspritzt Gift.“

Hielt sich die Oberammergau-Kritik in den USA damals und während der ersten Jahre nach 1945 noch in Grenzen, schwoll sie, verbunden mit Boykott-Drohungen, in den sechziger Jahren mächtig an. Ihre besondere Stoßkraft gewann diese Kritik dadurch, dass sie sich nach dem II. Vatikanischen Konzil auf die Bundesgenossenschaft der römisch-katholischen Amtskirche berufen konnte. Das Konzilsdokument „Nostra Aetate“ (1965) sah die Juden nicht mehr als die „verblendeten und verstockten Widersacher des Welterlösers Jesus Christus“ an. Es betonte nicht mehr so eindeutig wie in der Vergangenheit, dass die jüdische Verwerfung des Messias Jesus die Ablösung des Alten Bundes, den Gott mit dem Volk Israel geschlossen habe, durch den neuen Bund bedeutete, durch den nun die christliche Kirche an die Stelle Israels getreten sei. Jetzt, nach dem II. Vatikanum, galten die Juden der Amtskirche als „unsere älteren Brüder im Glauben“, sollten die Christen ihnen mit höchstem Respekt und mit größtmöglicher Toleranz begegnen.

ZANGENANGRIFF AUF OBERAMMERGAU

Das hatte Konsequenzen auch für die Oberammergauer Passionsspiele. Die Verantwortlichen sahen sich zusätzlich zu dem drängenden Begehren jüdischer Interessengruppen, „Antijudaismus“ und „Antisemitismus“ aus Spieltext und Regiegestaltung zu verbannen, starkem kirchlichen Druck (konkret: des Münchner erzbischöflichen Ordinariats) ausgesetzt.

Zu diesem Zangenangriff auf die traditionelle Gestaltung der Oberammergauer Passionsspiele traf im Festspieljahr 2000 der jüdisch-amerikanische Professor James Shapiro (Columbia Universität New York; Anglistik und vergleichende Literaturwissenschaft) folgende Feststellung: „In Wahrheit hätte der jüdische Protest, auch mit Boykottdrohungen, wohl kaum Änderungen am Passionsspiel erreicht, wenn die katholische Kirche nicht von sich aus ihre Lehrmeinungen substanziell geändert hätte … Erst unter dem Druck des Zweiten Vatikanischen Konzils einerseits und dem massiven Protest jüdischer Organisationen andererseits sahen sich die Oberammergauer gezwungen, ihr Spiel, wenn auch widerstrebend, dem neuen Geist anzupassen.“

Das Dilemma für die Mehrheit der traditionsbewussten Oberammergauer formulierte 1980 der damalige Spielleiter Anton Preisinger so: „Wir können nicht ändern, was in der Bibel steht.“ Dennoch geschah genau dies. Zug um Zug entsprachen in den nächsten 20 Jahren die so genannten Reformkräfte, die sich im Dorf allmählich durchsetzten, unter der Federführung des Duos Otto Huber (Dramaturg) und Christian Stückl (Regie) den Wünschen der jüdischen Pressure Groups und der katholischen Konzilskirche.

BIBELTREUE AUFGEGEBEN

So wurde etwa der beim Evangelisten Matthäus zu findende so genannte Blutruf („Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!“) getilgt. Es ist absolut richtig, von der irrigen Vorstellung abzugehen, alle zu Christi Zeiten lebenden Juden seien kollektiv schuldig, wie auch von der Fiktion, deren Nachkommen seien bis auf den heutigen Tag mit der Kollektivschuld an der Ermordung von Jesus belastet. Denn es gab nur die individuelle Schuld der damaligen Drahtzieher unter den jüdischen Religionsführern und der von ihnen aufgeputschten Volksmenge vor dem Palast des römischen Statthalters Pontius Pilatus. Es hätte aber wohl genügt, diese Auffassungskorrektur im Programmbuch für die Zuschauer deutlich festzuhalten, ohne den biblisch verbürgten Ruf der verführbaren Menge im Spieltext zu streichen.

Die Änderungswünsche betrafen u. a. auch die Gestalt des Pilatus. Dieser sollte nicht länger als positiv wirkende Gestalt das Spielgeschehen bestimmen. So verfiel auch sein berühmtes „Ecce homo“ (Seht, welch ein Mensch!) der Streichung. Spieltext und Spielgestaltung sollten so ausfallen, dass die Römer als die Hauptschuldigen an Christi Tötung erschienen.

Gewünscht war auch, Jesus ganz stark als Juden darzustellen. Ein Rabbi, der einer innerjüdischen Auseinandersetzung zum Opfer fällt. So hat er Jeschua und nicht Jesus zu heißen; er trägt die Kippa, das so genannte Judenkäppchen, das aber zu Christi Zeit noch gar nicht üblich war. Wollte man die zahlreichen Eingriffe in Text und Spielgestaltung, die bis zur Spielzeit 2000 den Oberammergauern abgerungen wurden, aufzählen, würde das den Rahmen dieses Artikels sprengen.

IMMER NEUE ZUGESTÄNDNISSE

Umso mehr wundert man sich, wenn nun an den Passionsspielen des Jahres 2010, die gegenwärtig in dem weltbekannten Holzschnitzerdorf laufen, von der US-jüdischen Anti-Defamation League erneut in einer Weise Kritik vorgebracht wird, als habe es in den vergangenen Jahrzehnten nicht zahlreiche Zugeständnisse gegeben, die teils den Charakter des Passionsspiels veränderten. Die jüdische Interessengruppe bedient sich einer Untersuchung, die Experten des amerikanischen Rates der jüdisch-christlichen Beziehungen (CCJR) angefertigt haben. Diese hatten den Auftrag erhalten, den gegenwärtigen Text des Passionsspiels zu überprüfen, ob er dem „heutigen Standard“ entspreche. Zu prüfen sei auch, ob sich das Spiel auf dem Erkenntnisstand der heutigen Geschichts- und Bibelwissenschaft befinde.

Ergebnis: Die Experten glaubten immer noch allerhand zu entdecken, was beim Publikum „einen negativen Eindruck über die gesamte jüdische Gemeinschaft“ hinterlasse. So setzten sie etwa bei den „Lebenden Bildern“ an, die der Verknüpfung von Altem und Neuem Testament dienen und der Theatertradition geistlicher Schauspiele sowie der im Katholizismus üblichen typologischen Schriftauslegung des Alten Testaments entstammen. Die jüdische Bibel wird dabei im Hinblick auf all das gelesen, was sie an Hinweisen auf das Kommen und das Erlösungswerk des Messias Jesus Christus enthält. Hier fallen katholische und jüdische Lesart auseinander.

In den vergangenen Jahren ist Oberammergau jüdischen Forderungen auch auf diesem Gebiet durch Streichungen und Änderungen an den „Lebenden Bildern“ schon weit entgegengekommen. Nun aber muss man den Eindruck gewinnen, als sollten am besten alle alttestamentlichen Bilder gestrichen werden. Das aber würde die Struktur des Oberammergauer Passionsspiels zerstören. Wenn es nur um Einzelforderungen geht, etwa nach der Streichung des Bildes vom Tanz um das Goldene Kalb, liegt die Versuchung nahe, dem nachzugeben, um endlich Ruhe zu haben.

Über die Passionsspiele des Jahres 2000 hat der erwähnte Literaturwissenschaftler Shapiro notiert: „Der jüdische Jesus, den die Besucher in Oberammergau auf der Bühne erleben, hat nicht viel Ähnlichkeit mit der Gestalt, die sie in der Liturgie, in der Predigt und auch in der Kunst sehen, wenn sie wieder aus Oberammergau nach Hause zurückkehren.“

Manfred Müller


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