Rußlanddeutsche Aussiedler verstehen - Praktisch-theologische Zugänge

Die ersten in Karaganda (Kasachstan) oder in Duschanbe (Tadschikistan) geborenen Menschen, mit denen ich bewußt zusammenkam, waren junge Eltern, die ich vor der Taufe ihres Kindes besuchte. Ihre Sprache befremdete mich, ihre Vorstellungen von Kirche waren mehr als vage, und von ihrem Leben vor der Ausreise nach Deutschland wußte ich wiederum nichts. Bald waren es nicht mehr nur Kinder, um deren Taufe ich gebeten wurde, sondern immer wieder mehrere Menschen aus einer Familie zugleich, auch über die Generationsgrenzen hinweg.

Praktisch-theologische Zugänge
Rußlanddeutsche Aussiedler verstehen
Christian Eyselein
Evangelische Verlagsanstalt GmbH
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Die Zahl rußlanddeutscher Aussiedler im Gemeindegebiet der Apostelkirche in Neuburg an der Donau begann in der ersten Hälfte der neunziger Jahre sprunghaft zu wachsen. Freiwerdende Sozialwohnungen waren attraktiv für bisherige Bewohner des Übergangswohnheims in einem verpachteten großen Gasthof im Nachbarort. Und solange es rechtlich möglich war, bemühten sich rußlanddeutsche Aussiedler, an einen Ort zu kommen, an dem bereits andere von „ihren Leuten“ lebten.
Vielfältige Begegnungen mit Aussiedlern in allen gemeindlichen Arbeitsfeldern schlossen sich in den folgenden Jahren an. Sie umfaßten einen weiten Bereich, der tief anrührende Situationen ebenso einschloß wie auch Momente großer Ratlosigkeit:
Eine bis vor kurzem im Schatten des Ostblocks verborgene Welt deutscher Menschen begann sich inmitten unserer Kirche zu erschließen und konfrontierte die westlichen Gemeinden mit ihrer eigenen, in dieser Hinsicht meist völligen Ignoranz. Hatte ein Großteil der deutschen Bevölkerung und mit ihr auch der Kirchengemeinden schon nicht mit einer Wiedervereinigung Deutschlands in absehbarer Zeit gerechnet, bestand umso weniger ein Bewußtsein für Millionen von Menschen hinter dem „Eisernen Vorhang“, die sich als Deutsche verstanden und nach Öffnung der Grenzen nun nach Westen strebten.
Zum bewegenden, zunehmend auch bedrängenden Dauerthema erwuchsen diese neuen Herausforderungen auch an anderen Orten des Dekanatsbezirks Ingolstadt, in einigen Gemeinden in noch weit höherem Maß. Im Lauf weniger Jahre wurde die Region an der Donau zu einem der Hauptzuzugsgebiete von Aussiedlern in der bayerischen Landeskirche. Wie sollten evangelische Gemeinden sich den neuen Gegebenheiten stellen? Viel guter Wille und enttäuschende Mißerfolge lagen oft nahe zusammen. War und ist es denn gerechtfertigt, daß Hunderttausende, die ihre kulturelle Prägung sichtlich unter völlig anderen Bedingungen erfahren haben, sich als Deutsche verstehen und Heimat in unserer Mitte suchen? Herzliche Akzeptanz ist vielerorts anzutreffen, ebenso aber bewußte Zurückhaltung aus Selbstschutzbedürfnissen hiesiger Gemeinden oder auch aus dem Bedenken, eine „Überbetreuung“ erschwere letztlich nur die Eingliederung.


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Erhard Coch ist Autor verschiedener Bücher und Essays.