Haiti wird Protektorat der USA

Neues Sprungbrett in Lateinamerika.

Ein tragisches Erdbeben hat eines der ärmsten Länder dieser Erde verwüstet. 80 Prozent der Bevölkerung Haitis leben von weniger als zwei Dollar am Tag, der Anteil der Schwarzarbeit liegt bei 70 Prozent. Nur die Hälfte der Kinder kann eine Schule besuchen, 90 Prozent von ihnen müssen dafür zahlen, da der Staat praktisch kein Geld für Bildung aufbringen kann. Von den 9,4 Millionen Einwohnern Haitis sind 1,9 Millionen unterernährt. Die Lebenserwartung liegt bei durchschnittlich 50 Jahren. Die Säuglingssterblichkeit betrug 1997 mehr als neun Prozent, die Kindersterblichkeit 13 Prozent. Etwa die Hälfte der Bevölkerung sind Analphabeten, die Arbeitslosigkeit liegt auf ähnlichem Niveau.

Bereits vor zwei Jahren wurde das bitterarme Land von entsetzlichen Naturkatastrophen heimgesucht. Vier Wirbelstürme richteten so schwere Verwüstungen an, dass die Wirtschaft seitdem vollends daniederliegt. Selbst die früher halbwegs einträgliche Textilindustrie ist zusammengebrochen. Kaum jemand investiert, Geld verschwindet, die Oberschicht hortet ihren Reichtum hinter Mauern oder im Ausland, Millionen Haitianer sind geflüchtet. Der Tourismus gedeiht nur in abgeschotteten Arealen. Das größte Geschäft, so heißt es, ist der Schmuggel mit Kokain – Haiti ist zu einem beliebten Transitland geworden.

EINST EIN BLÜHENDES LAND

Dabei war Haiti einstmals ein blühendes Land und reich. Außerdem ist es das einzige Land der Welt, das sich durch einen Sklavenaufstand selbst befreite. 400.000 verschleppte und versklavte Afrikaner haben sich erfolgreich gegen 30.000 weiße Besitzer der Zuckerrohr- und Kaffeeplantagen erhoben. Umso tragischer ist es, dass Haiti auch das mit Abstand ärmste Land der westlichen Welt ist – vergleichbar mit dem Kongo und Somalia. Mittlerweile gibt es im einst freien Haiti Hunderttausende Kindersklaven und mehr Abfallberge als Arbeitsplätze.

Die Insel Hispaniola besteht heute aus zwei Staaten: der Dominikanischen Republik im Osten, Haiti im Westen. Entdeckt wurde sie 1592 von Kolumbus. Spanier rotteten die dort lebenden Indios, vermutlich eine Million Menschen, fast völlig aus. Vom 17. Jahrhundert an wurde die Insel durch Sklaven aus Afrika wieder bevölkert, die auf den neuen Zuckerrohrplantagen schufteten. 1697 wurde die Insel geteilt; Spanien trat das heutige Haiti an Frankreich ab. Haiti wurde zur mit Abstand reichsten französischen Kolonie.

Im Zusammenhang mit der französischen Revolution und der Sklavenbefreiung gab es von 1791 an Aufstände der Schwarzen und der Mulatten gegen die weiße Oberschicht; 1804 verließen die Franzosen die Insel. Allerdings erzwangen sie 1825 eine Regelung, wonach Haiti den ehemaligen Plantagenbesitzern über Jahrzehnte gewaltige Entschädigungen zahlen musste. Unter anderem dies und fast ununterbrochene politische Gewalt, Bürgerkriege und wechselnde Herrscher ruinierten das Land.

VON DEN USA BESETZT

Von 1915 bis 1934 war Haiti von US-Marineinfanteristen besetzt, die nach ihrem Abzug die Kontrolle über die Finanzen bis 1947 behielten. 1937 wurden auf Befehl des dominikanischen Diktators Rafael Trujillo an der Grenze rund 18.000 Haitianer niedergemetzelt. 1957 kam Francois („Papa Doc“) Duvalier an die Macht und begründete eine Dynastie des Terrors, die 29 Jahre währen sollte. Mit Hilfe seiner Schlägertrupps, den „Tontons Macoutes“, terrorisierte er das Land, beutete es aus und stabilisierte seine Herrschaft. Unter seiner Schreckensherrschaft und der seines Sohnes Jean-Claude („Baby Doc“) Duvalier wurden Zehntausende getötet.

Erst 1990 bekam Haiti mit dem Armenpriester Jean-Bertrand Aristide den ersten demokratisch gewählten Präsidenten. Doch schon 1991 wurde Aristide gestürzt, und tausende Haitianer suchten ihr Heil in der Flucht übers Meer nach Florida. US-Präsident Bill Clinton entsandte 1994 rund 20.000 Soldaten, um Aristide wieder einzusetzen. Nach dessen Wiederwahl 2000 wurden die Hoffnungen bald enttäuscht. Vorwürfe, seine Partei habe Wahlen gefälscht, Millionen Dollar Hilfsgelder eingesackt und politischen Gegnern Gangster auf den Hals gehetzt, führten zu einem blutigen Aufstand und dem Sturz Aristides 2004.

2005 wurde Aristides einstiger Weggefährte René Préval, der sich mit einer eigenen Partei „Die Hoffnung“ abgespalten hatte, zum Präsidenten gewählt. Doch auch er hat die Elendsinsel nur wenig stabilisieren können. Wie schon in den vergangenen 20 Jahren herrschen Korruption, Gewalt, Drogenhandel, Prostitution, Umweltzerstörung, Menschenrechtsverletzungen, soziales Elend und ökonomische Misswirtschaft. Wegen mangelnder Infrastruktur ist beispielsweise ein Transport von Ernteerträgen aus dem Hinterland in die Hauptstadt Port-au-Prince nicht ohne Weiteres möglich, doch nur von dort könnten sie ins Ausland verschifft werden. Die Armen schlagen jeden Baum, jeden Strauch, um Holzkohle zu verkaufen. Deshalb ist die Insel kahl, die Böden sind von Erosion zerstört.

GEWALT GEGEN ELEND

In den vergangenen sechs Jahren lösten sich sechs Premierminister an der Regierung ab. Die politische Instabilität wurde von Préval sogar noch geschürt. So verhinderte er beispielsweise im vergangenen Oktober nicht den Sturz der effektiven ehemaligen Entwicklungshelferin Michèle Pierre- Louis, die als kompetente Premierministerin galt.

Vor zwei Jahren appellierte Präsident René Préval an die Staatengemeinschaft, sich auf langfristige Lösungen für sein Land zu verpflichten, da Almosen den ewigen Kreislauf von Armut und Elend nicht stoppen könnten. „Wenn die erste Welle des Mitgefühls sich erschöpft hat, stehen wir wie immer ganz allein da und sehen den nächsten Katastrophen entgegen“, klagte er.

Weil die Gewalt unter den Jugendbanden in den Slums, Entführungen und die Aktivitäten der lateinamerikanischen Drogenkartelle überhand nahmen, hat die UNO Mitte 2004 eine Mission von 7.000 Blauhelmen, 2.000 Polizisten und 1.900 zivilen Mitarbeitern entsandt. Die so genannte „Minustah“ hat es tatsächlich geschafft, die Elendsquartiere einigermaßen zu befrieden. Doch die grundlegenden Probleme wurden nicht gelöst. Außerdem ist der Blauhelm-Einsatz zeitlich befristet und läuft demnächst aus. Eine Verlängerung des UNO-Mandats ist gegenwärtig nicht sicher.

DIE SCHULD DER WELTBANK

600 Millionen Dollar jährlich verwendet die UNO auf „Minustah“, mehr als eine Milliarde geben weitere Gönner wie Venezuelas Präsident Hugo Chávez, diverse Hilfsorganisationen und Emigranten. Die Hälfte der haitianischen Familien könnte ohne Überweisungen von Auslands-Haitianern nicht überleben.

Ganz besonders hart wurde Haiti 2008 von der weltweiten Lebensmittelkrise getroffen. Im April 2008 schnellte der Preis für den 23-Kilo- Sack Reis binnen weniger Tage von 35 auf 70 Dollar. Mais, Bohnen und Öl waren bereits in den vorangegangenen Monaten um 40 Prozent teurer geworden, und der Fahrpreis für die Kleinbusse stieg Monat für Monat um 10 Prozent. Bei den darauf einsetzenden Hungerrevolten im Frühjahr 2008 kamen sechs Menschen ums Leben (darunter ein UNO-Polizist aus Nigeria). Außerdem gab es 170 Verletzte, davon 44 mit Schusswunden.

An der katastrophalen Nahrungsmittelsituation in Haiti treffen die USA und die Weltbank die Hauptschuld. Noch vor 20 Jahren bewässerte der Artibonite die Reisfelder in der gleichnamigen Ebene. Damals deckte die Reisproduktion fast die Nachfrage im Lande ab. Heute müssen 80 Prozent des Grundnahrungsmittels importiert werden. Ein Grund liegt darin, dass sich der Preis für Dünger verfünffacht hat.

IN DEN RUIN GETRIEBEN

Doch es war vor allem der stark subventionierte, aus den USA importierte Reis, der die Hälfte der kleinen bäuerlichen Betriebe ruiniert hat. In den Strukturanpassungsplänen der Geberländer wurde die Abschaffung der hohen Importzölle zur Bedingung gemacht. Man müsse nun zunächst an die Versorgung der Städte denken, hieß es daraufhin. Was am Anfang stimmte. Nur hatten die Importeure es dann eilig, ihre Gewinnmargen zu erhöhen. Und es fanden sich neue Kunden: die in den Ruin getriebenen Bauern, die wenig später in den Elendsvierteln von Port-au-Prince strandeten.

Wie in so vielen anderen Entwicklungsländern auch, hat der lokale Anbau von Reis oder Getreide die von den USA dominierte Weltbank nie interessiert. Im Gegenteil machte die Weltbank den Entwicklungsländern regelmäßig die Vorgabe, die einheimische Wirtschaft zu Lasten der bäuerlichen Landwirtschaft umzugestalten und die Schutzzölle für eigene landwirtschaftliche Produkte abzuschaffen. Infolge dieser katastrophalen Fehlpolitik wird Hunger und Elend noch lange in Haiti grassieren. Kinder mit aufgequollenem Hungerbauch und fahlen Haaren werden noch lange zum Bild des Landes gehören.

Die USA haben eine große Streitmacht auf Haiti unter humanitären Vorwänden stationiert. Es soll sich dabei um mehr als 12.000 Soldaten handeln. Effektiv wurde die entsetzliche Notlage von Washington genutzt, um ein Protektorat auf Haiti zu installieren. Von diesem Sprungbrett aus können unliebsame politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Bestrebungen in Lateinamerika unterdrückt werden. Wie genau die Vereinbarung mit haitischen Politikern aussieht und wie weit sie geht, bleibt im Dunkeln. Die Stationierung der US-Truppen gilt aber als unbefristet und dürfte für viele Jahre den Einsatz von US-Streitkräften weit über Haiti hinaus ermöglichen. Paris hat bereits protestiert. Tatsächlich ist es typisch, dass unter dem Mantel humanitärer Hilfeleistungen ein neues Protektorat in Lateinamerika eingerichtet wird, nachdem jüngst sogar Brasilien einen eigenständigen Kurs eingeschlagen hat.

Dr. Petersen


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