Kampf um Steuersenkungen

Wie die Konjunktur angekurbelt werden könnte.

Die neue Regierung will die Steuern senken. Das haben CDU/CSU und FDP im Wahlkampf fest versprochen. Gemeint sind dabei die Unternehmenssteuern und die Einkommensteuer. Nicht die Mehrwertsteuer. Von der vermuten viele, dass sie am Ende doch erhöht werden wird, um die Einnahmenausfälle des Staates infolge der Senkung der erstgenannten Steuern zu kompensieren. Wenigstens zum Teil.

Andere wiederum bestreiten die Notwendigkeit einer Gegenfinanzierung grundsätzlich, weil sich Steuersenkungen wegen der durch sie ausgelösten Wachstumsimpulse – langfristig – selbst finanzieren würden. Ein Prozent durch Steuersenkungen zusätzlich erzieltes Wachstum, so der Chefvolkswirt der Allianz, Heise, in der „Wirtschaftswoche“, ließe „das Steueraufkommen um schätzungsweise sechs bis sieben Milliarden Euro“ ansteigen. Das „Handelsblatt“ wiederum zitiert dazu andere, etwas zurückhaltendere Wirtschaftswissenschaftler. Diese gehen davon aus, dass höchstens 30 Prozent der Steuerausfälle aufgrund von durch Tarifsenkungen erzeugtes Wachstum wieder an den Staat zurückfließen könnten. Aber auch das erst nach Jahren.

Fazit: Kurzfristig muss der Staat Einnahmenverluste infolge von Steuersenkungen gegenfinanzieren. Mangels eines Haushaltsüberschusses kann das in Deutschland aber nur über neue Kreditaufnahmen und/oder Ausgabenkürzungen erfolgen.

ÖKONOMENSTREIT

Im Gegensatz zu den Koalitionären und deren Lobbyisten in Berlin, die um Steuersätze, Freibeträge, Zinsschranken, Verlustverrechnungen, Abschreibungsmethoden, kalte Progression und so weiter feilschen, dreht sich in diesem Zusammenhang der Streit bei den Ökonomen nur um eine einzige Größe, den so genannten fiskalischen Faktor, einen Multiplikator. Dieser misst, wie wirksam staatliche Mehrausgaben (deficit spending) und/oder Steuersenkungen das Wirtschaftswachstum (Bruttoinlandsprodukt) befördern. Richard Kahn, ein Schüler von Keynes, hat ihn bereits 1931 entwickelt. Besonders in Bezug auf den Multiplikatoreffekt, den Steuersenkungen auslösen, sind die Wirtschaftswissenschaftler uneins. Zur Freude der Lobbyisten, die sich deshalb die jeweils ihre Interessen stützende „Expertenmeinung“ herauspicken können.

Steuersenkungen für kleine und mittlere Einkommensbezieher führen zu mehr Nachfrage als Steuernachlässe für Wohlhabende, da die erstgenannten üblicherweise einen größeren Anteil ihres Einkommens gleich wieder ausgeben (müssen). Ein Argument, dass besonders Gewerkschaften pflegen. Die „Gegenlobby“, in Deutschland speziell repräsentiert durch die selbsternannte Partei der „Besserverdiener“, die FDP, hält mit der Warnung vor einem Negativimpuls für „Leistungsträger“ dagegen, wenn diese von Steuernachlässen ausgenommen oder gar noch zusätzlich belastet würden (Reichensteuer). Als ob Gering- und Normalverdiener keine Leistungsträger wären!

VERFASSUNGSWIDRIG?

Beide Lager – bei den Ökonomen und Politikern – stimmen derzeit zumindest im Grundsatz darin überein, dass in Deutschland eine Entlastung speziell der mittleren Einkommen dringlich ist, weil diese bei Lohnsteigerungen auf der Steuerprogressionskurve automatisch sehr steil nach oben geschoben werden (kalte Progression). Das wirkt nicht nur leistungshemmend und somit negativ auf das volkswirtschaftliche Wachstum, sondern berührt auch die Steuergerechtigkeit unmittelbar. Denn dieser wird nur Genüge getan, wenn die Steuererhebung gleichmäßig, das heißt nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Steuerpflichtigen erfolgt. Die Besteuerung ist aber nicht gleichmäßig, wenn der Fiskus nach dem derzeit geltenden Einkommensteuertarif vom Einkommen der Normalverdiener – anteilmäßig – mehr abgreift als von hohen Einkommen.

Ob diese Praxis nicht nur dem Grundsatz der Gleichmäßigkeit der Besteuerung widerspricht, sondern auch dem verfassungsrechtlichen Gleichheitsgebot (Artikel 3 des Grundgesetzes), sollte dem Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung vorgelegt werden. Vor allem dann, wenn die neuen Regierungsparteien – entgegen ihren Zusagen im Wahlkampf – am Ende wieder nicht bereit sein sollten, die kalte Progression für die Normalverdiener aus dem Steuertarif zu nehmen.

Die Glättung der auch „Mittelstandsbauch“ genannten kalten Progression im Steuertarif gerade jetzt ist auch deshalb geboten, weil in den kommenden Wintermonaten die Arbeitslosigkeit ansteigen dürfte und somit auch die Sozialversicherungsbeiträge. Dies steuerlich zu kompensieren, damit die Massenkaufkraft nicht schrumpft, gebietet die ökonomische Vernunft. Dagegen stützen schon wieder Steuersenkungen für Unternehmen – nach zuletzt 2001 und 2008 – in der augenblicklichen Lage nur die Klientel der neuen Regierungsparteien, nicht aber die Konjunktur. Sie steigern deshalb nur die öffentlichen Schulden und schwächen somit den fiskalischen Multiplikator.

ÖKONOMISCHE WIRKUNGEN

Das kann noch dadurch verstärkt werden, wenn Verbraucher weniger ausgeben, weil sie für die Zukunft höhere Steuern erwarten, um öffentliche Schulden zu finanzieren. Darauf deuten Ergebnisse von in angelsächsischen Ländern durchgeführten Untersuchungen hin. Bei diesen ist auch herausgefunden worden, dass dauerhafte Steuersenkungen zu mehr Verbrauchernachfrage führen als zeitlich begrenzte. Ferner liefern sie Belege dafür, dass fiskalische Multiplikatoren in nicht völlig offenen Volkswirtschaften, wie zum Beispiel China, stärker ausfallen als in ganz offenen, wie zum Beispiel in Deutschland, weil weniger von einem Stimulus über Importe ins Ausland abfließt. Die Erfahrung mit der Abwrackprämie in Deutschland, von der Importfahrzeuge sehr stark profitierten, kann diese Erkenntnis nur stützen.

Während vorerwähnte Erkenntnisse aus der Zeit vor der aktuellen Krise gewonnen wurden, ist heute vieles anders und verwirrend dazu. Dabei ragt besonders heraus, dass die Leitzinssätze in den Industrieländern bei Null oder nahe Null liegen. Deshalb sind die geldpolitischen Wachstumsimpulse weitgehend ausgereizt, so dass die Massenkaufkraft stützende Steuersenkungen jetzt eine noch größere Wirkung entfalten dürften als vor dieser Situation. Aber auch deshalb, weil – krisenbedingt – viele Konsumenten ihre Kreditlimite inzwischen ausgeschöpft haben.

Fasst man all das zusammen, können Wirtschaftswissenschaftler zwar relative Einschätzungen liefern, doch „die Wahrheit ist, dass die Ökonomen blind fliegen“, resümiert der britische „Economist“, und warnt die Entscheidungsträger in Politik und Wirtschaft, dass „sie sich selbst täuschen, wenn sie von diesen präzise Beurteilungen haben wollen“. Ein guter Ratschlag. Haben uns doch die ökonomischen Experten die Finanz- und Wirtschaftskrise weder vorhersagen können, noch können sie uns heute genau sagen, wie und wann wir sie überwinden können. Das liegt natürlich nicht an der Unzulänglichkeit der Forscher, sondern an der Komplexität der Materie. Und darin unterscheidet sich die Ökonomie nicht von anderen Forschungsfeldern.

Gerhard Reiber


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