Schlechte Verhältnisse - Ein Roman spielend im Milieu

Der Roman Schlechte Verhältnisse spielt entlang der tschechischen E55 inmitten des dortigen Milieus

Unser Autor erzählt hier die Geschichte eines Mannes, der sich auf die Flucht vor seinem bisherigen Leben und seinen Schulden macht. Große Sprünge kann er sich mit dem Geld, dass er sich nicht auf ehrliche Weise besorgt hat, nicht machen, also sucht er sich ein billiges und ihm nicht gänzliches Fluchtland: Tschechien. Entlang der verrufenen E 55 zwischen Dubí und Teplicé taucht er unter, und ein in ein Leben zwischen Lust und Leichtsinn, Gewalt, Prostitution und Korruption.

Schlechte Verhältnisse von Sebastian Reuters

Der nächste Tag begann mit einem Kater. Einem Kater in zweierlei Hinsicht. Zum einen erwachte ich mit der beängstigenden Gewissheit, dass meine Zeit hier abgelaufen war, zum anderen quälten mich die Folgen des Trinkens.
Ich ging auf den Markt und brachte dem Vietnamesen den Beutel mit der Hand, die ich mir, nachdem ich sie in den Beutel gesteckt hatte, nicht mehr angesehen hatte, und auch sein jämmerliches Werkzeug gab ich ihm zurück. Die junge Vietnamesin stand da und grinste. Ich konnte dieses Grinsen nicht deuten, versuchte es nicht einmal. Es hätte sowieso nur zwei Interpretationen geben können: Bekomm ich meine Belohnung oder verspottet sie mich? Da mir der Sinn nicht nach belohnt werden stand, konnte es mir folglich auch gleichgültig sein, was ihr Gegrinse zu bedeuten hatte.
Ich sagte dem Vietnamesen, dass ich mich später wegen des noch ausstehenden Abschlusses des Handels melden würde, jetzt aber zu müde sei. Er nickte, packte den Beutel, ohne hineinzusehen, in einen anderen Beutel und verstaute alles in seinem Kofferraum.
Zu Claudia wollte ich nicht zurück, so ging ich zu Radek in den Laden und sah ihm bei der Inventur, oder was immer es auch gewesen sein mag, zu. Er fand, dass ich mich in letzter Zeit etwas rar gemacht hätte, was auch stimmte. Ich war ihm kein guter Partner gewesen, zumindest die letzten Wochen nicht. Es waren noch keine Mädchen unten, und so wirkte die ganze Szenerie, als würde hier ein ganz normaler Kneipier seine Wirtschaft für den Publikumsverkehr herrichten. Das gefiel mir. „Ach, Radek“, sagte ich, „die Frauen bringen uns noch um, den sollen wir keine Sterne vom Himmel holen, sondern - ach was weiß ich.“ „Anderen Männern Hände abschneiden und als Trophäen mitbringen“, entgegnete Radek und fuhr fort: „Hast du gehört von dem armen Schwein, dem sie die Hand geklaut haben - unglaublich“, und Radek musste lachen.
Ich sagte ihm, dass ich auf dem Markt so etwas gehört hätte, aber sonst nichts Genaues wisse.
„Ist auch egal, Jan, geht uns nichts an, hat nichts mit unserem Geschäft zu tun. Waffen, sagen die einen und alte Geschichten aus dem Militär, sagen die anderen.“
„Oder Frauen“, sagte ich, „ob Waffen, Militär oder weiß der Kuckuck wer, Frauen haben irgendwas damit zu tun. Glaube mir.“
Den Rest des Tages verbrachte ich in meinem Zimmer, darauf hoffend, dass die Zeit heranrückte, die es mir erlaubte etwas zu trinken.
Sonia fuhr an diesem Tag zu Verwandten, so dass Claudia und ich allein im Haus waren. Ich fühlte mich wie mit ihr verheiratet, und ihr ging es, glaube ich, ähnlich. Jedenfalls war es angenehm.
Die Ausnahmesituation erlaubte es mir zu bleiben. Ich wusste instinktiv, dass ich spätestens dann zu verschwinden hätte, wenn alles wieder in geregelten Bahnen ablief. Claudia erzählte mir erstmals etwas von ihrer Familie; sie war tatsächlich eine halbe Zigeunerin, und sie erzählte auch, dass sie das ungern zugebe. Um aus dieser Tretmühle Müßiggang mit zu viel Alkohol aussteigen zu können, begann ich zu joggen. Täglich eine kleine Runde von etwa fünf Kilometern. Ich konnte mich bald steigern und war stolz darauf. Jeden Abend erzählte ich Claudia von meinen Erfolgen beim Joggen und sie freute sich ehrlich mit mir. Wir kochten zusammen, wir sprachen viel miteinander und wir liebten uns mehrmals täglich. Radek saß eines Abends bei uns und benahm sich so, als besuche er gerade ein mit ihm befreundetes Ehepaar. Er war ausgesprochen höflich, vielleicht ein wenig distanziert.
So erinnerte er mich an einen ehemaligen Vorgesetzten, zu dem ich ein fast freundschaftliches Verhältnis gehabt hatte. Nachdem er jedoch von Umstrukturierungsmaßnahmen erfahren hatte, die auch meine Weiterbeschäftigung in Frage stellen konnten, versuchte er unser Verhältnis langsam abzukühlen. Er machte eine so traurige Figur dabei, dass er mir nur noch Leid tat.
Claudia und ich gingen gemeinsam einkaufen, und einmal fuhren wir nach Dubii zu der behaarten Frau, die mich zur Begrüßung drückte, was Claudia ein Lächeln aufs Gesicht zauberte. Wir aßen Gulasch und Knödel und anschließend noch Eierkuchen mit Pflaumen. Auch den Abend verbrachten wir dort, ohne uns aber überreden zu lassen über Nacht zu bleiben. Als wir zurück kamen, die Haustür aufschlossen und den dunklen Raum betraten, war ich glücklich. Claudia drückte mich; wir gingen ins Bett, ohne miteinander zu schlafen. Am nächsten Morgen lag sie sich in meinen Armen und sagte: „Erzähl eine dumme Geschichte ...“ Ich freute mich darüber wie ein Kind und versuchte eine meiner Geschichten so raffiniert wie nur irgend möglich zu erzählen. Claudia hörte aufmerksam zu und lachte manchmal leise.
An die Hand dachte ich selten, obwohl wir uns hin und wieder über diese Geschichte unterhielten. Jedes Mal, wenn wir darüber sprachen, entfernte sich diese Nacht ein Stück mehr von mir. Was aber blieb, waren die Erinnerungen an jene Augen, die aus dem Gesicht der Vietnamesin zu steigen schienen. Die Augen beschäftigten mich und ich trauerte dieser kurzen Liebe nach, der es nicht vergönnt gewesen war, einen Tag so zu leben, wie ich es nun mit Claudia schon über eine Woche durfte. Ich erzählte Claudia davon und sie sagte mir, dass sie seit ihrem vierzehnten Lebensjahr so etwas Schönes wie zurzeit mit mir, nicht erlebt habe. Damals war es eine unschuldige Liebe zwischen zwei Zigeunerkindern, die nicht wussten, dass sie Zigeunerkinder waren. Sie hielten Händchen und versuchten sich gegenseitig die Welt zu erklären. „Richtige Philosophen waren wir“, sagte Claudia lachend, „aber nicht lange, dann war alles vorbei, der Junge durfte nicht mehr mit in die Schule und wurde von da an unausstehlich. Er wollte ficken und Schnaps trinken.“ Weiter erzählte sie: „Zigeuner können manchmal sehr hart zueinander sein. Ich musste irgendwann mit einer Tante auf den Strich gehen. Ich stieg zwar in keine Autos ein, aber ich war der Lockvogel. Von da an wurde ich in meiner Familie, die mich doch losgeschickt hatte, wie die letzte Nutte behandelt. Ich wurde von allen Verwandten auf meinen Arsch und meine Titten so schamlos angesprochen, dass ich überhaupt nicht mehr wusste, was ich anziehen sollte. Aber mir ging es noch gut, ich war immerhin schon vierzehn; andere Mädchen spielen an den Stellplätzen ihrer Mütter und erfahren so wie selbstverständlich, was eine Frau ist. Und so werden sie auch von Vätern und Brüdern behandelt, wie kleine Nutten von sechs, sieben Jahren. Die Mütter sind nicht besser, manche verkaufen ihre Kinder gleich mit oder nehmen sie mit in die Autos deutscher Männer, wo sie dann gemeinsam die Männer befriedigen. Einmal war ich bei Freunden, und eine dieser Mütter kam mit ihrer neunjährigen Tochter vom Strich zurück und als ich sagte, dass ich das widerlich fände, wurde ich ausgelacht. ´Ausgerechnet du musst dich so haben ´ sagten sie zu mir.“ Claudia verunsicherte mich und ich sagte halb im Scherz, dass sie so etwas nicht zu oft ihren Kunden erzählen solle, weil das schlecht fürs Geschäft sein könne.
Claudia glaubte das nicht. „Erinnere dich, so sind die deutschen Männer, oder vielleicht auch alle Männer, sie sagen zu mir: ´So ein nettes hübsches Ding, muss so einen miesen Job machen´, dabei schütteln sie den Kopf und dann gehts los." Und dann fuhr sie fort: "Wenn die Typen es ernst mit ihrem Mitleid meinen würden, wäre es schlecht für mein Geschäft, aber warum sie sowas erzählen, würde ich gerne verstehen."
Ja, ich erinnerte mich, Claudia hatte mir die Geschichte ganz am Anfang unserer gemeinsamen Zeit erzählt.
In jener Zeit wurde ich zu einem Moralapostel. Ich begann die Dinge mit anderen Augen zu sehen. Die Geschichte mit der Hand tauchte noch einmal auf und meine Grundstimmung wurde sehr weich. Ich hätte aller Welt Gutes tun wollen und bewertete alles mit übertriebener Strenge. Ein Büfett, zu dem Claudia und ich eingeladen waren, ekelte mich, weil gebratenes Fleisch im Überfluss vorhanden war. Hähnchenkeulen, Rippchen, Braten usw. lagen in solcher Menge herum, dass es den anwesenden Gästen unmöglich war, das alles zu essen. Es gab fast keine Beilagen, sondern ausschließlich Fleisch von Tieren, deren Tod ich so deutlich sah und roch, dass ich Mühe hatte mich nicht zu erbrechen. Es roch nach Leichen, was ich den Gästen übel nahm. Dabei maß ich mit zweierlei Maß. Ich sagte zu Claudia: „Sieh dir diese Schweinerei an, was ist dagegen schon die abgesägte Hand irgendeines Arschloches?“
Claudia verstand nicht, was ich damit sagen wollte, und zuckte mit den Achseln. Mir war es aber ernst damit; ich fand meine Sägeaktion relativiert. Dass mich dieser Altar der täglichen Metzelei auch deshalb anekelte, weil ich mir vorstellte, wie aus diesem Haufen plötzlich die Hand auftaucht, machte es noch schlimmer. Ich aß an dem Abend nichts und begann Claudia auf der Heimfahrt große Geschichten über die vegetarische Lebensart zu erzählen. Das war neu für Claudia und auch neu für mich. So sah ich mich in diesem Moment selbst mit Befremden. Ein Vorbild saß da am Steuer und schwadronierte über Hühner-KZs und derlei Dinge.
Claudia ließ das alles über sich ergehen und fragte mich zu Hause, ob ich nicht ein Wurstbrot haben möchte, da ich den ganzen Abend über nichts gegessen hätte. „Warum eigentlich nicht?“, wollte sie wissen, während sie mir ein Leberwurstbrot reichte, das ich mit großem Appetit verschlang. Ich nahm mir dennoch vor, auf Fleisch zu verzichten, wo es nur ging - was in Tschechien aber schwierig war.
Entweder hätte ich mich nur noch von süßen Mehlspeisen ernähren können oder aber von totgegartem Gemüse. So ging es mir mit sämtlichen Ansätzen, ein besserer Mensch zu werden; zwar erzählte ich pausenlos davon, die Welt verbessern zu wollen, aber ich trug dazu nicht das Geringste bei. Bald sprach ich auch weniger darüber, was man eigentlich ´muss´, sondern darüber, was man eigentlich ´müsste, wenn dieses und jenes eintreten würde´; da diese Umstände wiederum nicht zu entdecken waren, ließ ich alles beim Alten. Bis auf meine weiche Grundstimmung, die mir Claudia als Weinerlichkeit vorwarf. „Du wirst unmöglich, du musst dich mal hören, wenn du betrunken bist, du erzählst dummes Zeug und führst dich wie ein Messias auf. Erzähl doch lieber deine dummen Geschichten, aber lass diesen Blödsinn.“ Aber irgendwie konnte ich den Blödsinn nicht lassen, bis ich einige Nächte alleine in meinem Zimmer als Weltschmerzler der höchsten Stufe zugebracht hatte. Danach ebbte der Gutmenschwahn ein wenig ab und ich wollte nur noch bei Claudia schlafen dürfen.
Die Zeit der Reue schien vorbei und Claudia lohnte es mir.
Ich kann sagen, dass ich in die Zeit der Reue auf sehr hohem Niveau eingestiegen bin und dann nur noch hinabsteigen musste, um meinen üblichen Zugang zur Welt wiederzuerlangen. Was ich aber nicht wiedererlangen konnte, war mein Eintritt in diese Welt der Mädchen und Bordelle; nicht dass ich mit keiner Nutte mehr geschlafen hätte, das nicht, aber ich konnte nicht mehr in einem solchen Laden arbeiten. Eine neue Identität in Form eines anderen Images hätte ich mir sehr wohl zulegen können, doch nicht in diesem Umfeld, in dem mich jeder als der kannte, der ich vorgab zu sein oder auch wirklich war. Ich holte mir tatsächlich einen kläglichen Betrag bei dem Vietnamesen ab, ohne dabei auch nur einmal an die Vietnamesin zu denken. Sie war mir egal geworden, nur Claudia zählte in dieser Zeit.
Als Sonia zurückkam, änderte sich auch nicht viel, nur dass Claudia von nun an immer mit in meinem Zimmer schlief. Ich glaube, dass Sonia drüber sehr unglücklich war. Sie hing zu sehr an Claudia und hätte die gemeinsamen Nächte mit Claudia dringender gebraucht als ich.
So dauerte es nicht lange, bis sie sich verliebte bzw. sich einredete sich verliebt zu haben. Jedenfalls schmiss sie sich einem Typen an den Hals, der John wirklich in den Schatten stellte. Doch sie war nicht von ihm abzubringen. Anfänglich schlief dieses Arschloch bei Sonia unten im Zimmer, doch bald deutete alles darauf hin, dass Sonia uns verlassen wollte. Sonias Distanz zu uns wuchs, was wir zeitweise nur dem Arschloch zuschrieben, aber irgendwann begann uns Sonia richtig auf die Nerven zu fallen. Sie wurde pingelig und nörgelte an allem herum, während ihr Freund vergnügt unser Zerwürfnis betrachtete. Was er über mich dachte, kann ich nicht sagen; nur so viel: sonderlich ernst nahm er mich bestimmt zu keiner Zeit.
Nachdem Sonia ausgezogen war, fehlte jedoch etwas im Haus. Claudia und ich begannen sogar gemeinsam Karten zu spielen oder Mikado. Wir tranken auch sehr viel weniger, was wohl auf schwindende Lebenslust hindeutete.

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