Nach Mobbing: Der Junge, der nicht zur (Regel-)Schule darf

Adrian ist vertieft, der Zehnjährige macht Hausaufgaben. Vor ihm auf dem Tisch liegen Arbeitsblätter, ein Deutsch- und ein Mathe-Buch für die vierte Klasse. Zur Schule darf der Junge nicht. Die Schulpflicht ruht. Das soll auch so bleiben, hat das Staatliche Schulamt für den Landkreis Groß-Gerau und den Main-Taunus-Kreis der Anwältin der Familie am 23. Juli 2008 mitgeteilt. Adrian soll eine Heimschule besuchen. Das will er nicht. Das wollen auch seine Mutter (39) und sein Vater (40) nicht. Die Schule in Groß-Gerau, die der Zehnjährige zuletzt besucht hat, reagiert nicht auf Anfragen. Das hessische Kultusministerium verweist auf die Gesetzeslage.

Hallo, Adrian, wie alt bist du?
Adrian: Zehn Jahre.

Und wo gehst du zur Schule?
Adrian: Das Schulamt lässt mich seit eineinhalb Jahren nicht zur Schule gehen.

Die lassen dich nicht zur Schule gehen? Warum das denn nicht?
Adrian: Die Lehrer und das Schulamt wollen nicht, dass ich zur Schule gehe. Sie lassen mich nicht. Meine Eltern haben alles versucht, dass ich wieder in die Schule gehen kann.

Du bist aber doch schon mal zur Schule gegangen? Was ist denn passiert?

Adrian: Die Lehrer in der alten Schule haben mich schlecht behandelt. Sie haben mich vor meiner Mutter und anderen Eltern und Kindern herumgezerrt. Wenn ich von Mitschülern geschlagen worden bin, haben sie gesagt, dass ich mich nicht wehren darf. Ich durfte das auch nicht der Pausenaufsicht melden. Das ist Petzen, haben sie gesagt.

Und wenn du doch den Lehrern erzählt hast, was passiert ist, was geschah dann?

Adrian: Wenn ich gepetzt habe, musste ich zur Strafe in die Pausenhalle. Die Lehrer haben dann immer vor allen Kindern so ein blödes Gedicht aufgesagt.

Was für ein Gedicht?
Adrian: Petze, Petze ging in Laden, wollte Schweizer Käse haben. Schweizer Käse gab es nicht, Petze ärgert sich.

Ist noch mehr passiert?
Adrian: Einmal habe ich beim Fangen spielen ein Mädchen ohne Absicht umgerannt und musste acht Wochen in der Pausenhalle sitzen, wenn alle anderen Kinder Pause hatten und wenn Frühstück war, musste ich auch in die Pausenhalle. Die Lehrerin sagte, wenn ich an der Schule bleibe, muss ich für immer drinnen bleiben.

Wenn ich auf dem Stuhl gesessen habe, hat mir die Mathelehrerin die Beine zusammengedrückt, dass mir die Hoden wehgetan haben. Meine Klassenlehrerin hat das auch immer gemacht.

Ich durfte nicht allein zum Klo, und die Sportlehrerin hat mir über die Schulter geguckt beim Pinkeln. Ich war immer an allem schuld. Ich durfte mich nie verteidigen, auch wenn ich nichts gemacht habe.

Hättest du nicht die Schule wechseln können?
Adrian: Hab ich. Doch meine Schülerakte ist schon drei Wochen, bevor ich in die neue Schule gekommen bin, dort gewesen. Als ich dort zur Schule ging, wurde ich wegen der Schülerakte auch wieder schlecht behandelt. Dabei hat die Rektorin zu meinen Eltern gesagt, dass nicht alles stimmen würde, was in der Akte über mich steht.

Es begann alles wieder von vorne?
Adrian: Ja. Die Sportlehrerin hat mich sogar ungefähr 30 Minuten allein in der Turnhalle eingesperrt und ist weggegangen. Ich habe gerufen und an die Scheiben gehämmert. Alle Ausgänge waren zugestellt. Ich musste warten, bis die Lehrerin die Tür wieder aufgeschlossen hat. Seitdem hatte ich immer Angst, zum Sport zu gehen.

Dann haben mich die Kinder in der Pause unten reingetreten und gehauen. Die Lehrer haben nur geguckt und nichts gemacht. Meine Mutter musste mit mir oft zum Kinderarzt. Ich habe dann morgens immer gebrochen, weil ich Angst hatte, in die Schule zu gehen. Bin aber immer gegangen. Das, was die mit mir gemacht haben, ist Mobbing, sagen meine Eltern.

Wie haben deine Eltern darauf reagiert?
Adrian: Meine Eltern haben sich an eine Gruppe gewendet. Die hat uns schon sehr geholfen und unterstützt. Die haben auch gleich gemerkt, was da los ist.

Und nun darfst du nicht mehr zur Schule. Was machst du denn, während die anderen Kinder in die Schule gehen?
Adrian: Ich lerne zu Hause. Meine Mutter druckt Arbeitsblätter aus dem Internet aus. Die lese ich dann und fülle die aus oder rechne die aus. Sie lernt mit mir jeden Tag. Englisch, Deutsch, Mathe, Sachkunde. Ich muss auch täglich was schreiben auf Englisch und Deutsch.

Meine Eltern haben ein paar Mal versucht, dass die Schule uns Arbeitsblätter gibt. Am Anfang haben wir ein paar Arbeitsblätter bekommen. Jetzt sagen das Schulamt und die Schule, dass das keinen Sinn hat. Sie geben uns keine mehr.

Ich habe sogar ein halbes Jahr eine Hauslehrerin gehabt. Die war nett. Jetzt sagt das Schulamt, sie darf nicht mehr kommen. Ich soll in ein heilpädagogisches Kinderheim.

Meine Eltern haben die Hauslehrerin vor Gericht durchgesetzt. Sonst hätte ich von Anfang an so zu Hause gehockt.

Was wünscht du dir?
Adrian: Ich möchte wieder zur Schule gehen. Nur in das Kinderheim will ich nicht. Meine Eltern wollen das auch nicht. Es will nur das Schulamt in Rüsselsheim.

Ein Beitrag für www.readers-edition.de und http://kinderinheimen.blogspot.com

Redaktionen können beim Autor ein Foto von Adrian anfordern

Die Antwort des hessischen Kultusministeriums

1. Ist das Ruhen einer Schulpflicht rechtmäßig?
2. Können Eltern dazu gezwungen werden, ihr Kind zu einer bestimmten Schule zu schicken?
3. Wie lange darf der gegenwärtige Zustand noch andauern?

Diese Fragen hat Angelika Kramb vom Hessischen Kultusministerium schriftlich so beantwortet:

1. Gemäß § 65 Abs. 1 des Hessischen Schulgesetzes (HSchG) ruht die Schulpflicht auf Antrag für eine Schülerin mindestens vier Monate vor und drei Monate nach einer Niederkunft. Die Schulpflicht ruht ferner, wenn bei Erfüllung der Schulpflicht die Betreuung eines Kindes der oder des Schulpflichtigen gefährdet wäre. Über den Antrag entscheidet die Schulleiterin oder der Schulleiter. Für Kinder und Jugendliche, die auch in einer Förderschule oder durch Sonderunterricht nicht gefördert werden können, kann die Schulpflicht gemäß § 65 Abs. 2 HSchG auf Dauer oder vorübergehend ruhen. Hierüber entscheidet das Staatliche Schulamt nach Anhörung der Eltern auf Grund eines pädagogisch-psychologischen und eines schulärztlichen Gutachtens. Das Staatliche Schulamt kann anordnen, dass die Schulpflicht für die Dauer des Entscheidungsverfahrens vorläufig ruht, wenn es die Aufrechterhaltung des Schul- und Unterrichtsbetriebs oder die Sicherheit von Personen erfordert. Es unterrichtet die Jugend- und Sozialbehörden.

2. Nach § 60 Abs. 4 HSchG besteht die Verpflichtung zum Besuch der Grundschule des Schulbezirks des Wohnorts und nach § 63 Abs. 1 HSchG besteht die Verpflichtung zum Besuch der Berufsschule des Schulbezirks, in dem der Beschäftigungsort liegt. Alternativen hierzu finden sich im Einzelfall im Rahmen eines Gestattungsverfahrens nach § 66 HSchG.

Im Rahmen eines Entscheidungsverfahrens über sonderpädagogischen Förderbedarf nach § 54 Abs. 4 HSchG kann auch die Bestimmung der zuständigen Förderschule erfolgen. Außerdem kann nach § 82 Abs. 2 Nr. 6 ein Schüler als Ordnungsmaßnahme durch das Staatliche Schulamt in eine andere Schule der gleichen Schulform überwiesen werden.

Darüber hinaus gibt es in Hessen die freie Schulwahl.

3. Keine Antwort.


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