Spur der Steine von Erik Neutsch - DDR Literatur von Weltklasse

Unter den Tausenden, die sich auf den unübersichtlichen, von
den Hallen eingezwängten und mit Rohrleitungen überspannten Straßen der
Schkonawerke entlangschoben und von den Sirenen zur Eile getrieben wurden,
befanden sich auch die Ballas, acht Zimmerleute von den Baustellen, benannt
nach ihrem Brigadier. Sie waren in den Strudel der Männer und der Frauen mit
den Filzjacken, den öligen Schlosserkombinationen und den Laborkitteln geraten;
ihre schwarzen breitkrempigen Hüte, die äußeren Zeichen ihrer Zunft, schwammen
über der Menge wie die Blätter von Seerosen auf einem Teich. Von dem
buntbeflaggten Gebäude der Kreisleitung herab stieß, nachdem die Stille
urplötzlich wie der Lärm hereingebrochen war, eine Bläsergruppe in Blauhemden
Fanfarensignale. Trommeln wirbelten, ihr Klang vermischte sich mit dem
Getrappel der Füße auf dem Pflaster. Aus allen Hallentoren krochen die
Menschen, schwitzten und schluckten hustend den Staub, der bis hoch zu den
Fabrikgiebeln aufwallte, winkten und riefen sich Grüße zu, wenn sie einander
entdeckten. Manchmal formierten sich Kolonnen, versuchten im Gleichschritt zu
marschieren.

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An einem solchen Tage heulten die Sirenen. Sie heulten zu
einer ungewöhnlichen Stunde, kurz nach dem Mittag schon. Das Werk dröhnte, die
Scheiben aller Hallenfenster zitterten, an den Mauern zerplatzte der
vielstimmige Schall. Nirgends gab es einen Winkel, der im Lärmschatten blieb,
dem Echo verborgen, dem langgezogenen Schrei, der auf und nieder wellte. Denn
von allen Dächern heulten die Sirenen gleichzeitig, gellten auf mit einem
plötzlichen Mal, sekundengenau: dreizehn Uhr und vierundzwanzig Minuten. Sonst
immer, wenn die Sirenen zum Schichtwechsel riefen, setzten sie nacheinander
ein. Von irgendwoher, von einer der fernen Fabriken, erklang dann ein dünnes
Zirpen, die Sirenen in der Nähe kündigten sich mit einem Surren an, ehe sie
losbrüllten. Immer ähnelte es einem Orchester, das sich allmählich erst
einstimmte. Diesmal jedoch war es ein heftiger Schlag, ausgelöst von einem
einzigen Befehl, von einem einzigen Druck auf den Knopf: Um dreizehn Uhr und
vierundzwanzig Minuten erreichte der Ministerpräsident das Werk, schob sich der
Troß der schwarzlackierten, staubüberpuderten Wagen durchs Tor.

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Über Erhard Coch

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Erhard Coch ist Autor verschiedener Bücher und Essays.