Keine Opferrente für behinderte Heimopfer - Evangelische Stiftung Volmarstein lehnt ab

Sie wurden geschlagen, ihre kleinen Kinderfinger blau geknüppelt, sie bekamen Faustschläge auf den Kopf, ins Gesicht, auf die Ohren, sie wurden in die Ecke gestellt und, wenn sie zusammenbrachen, wieder hochgeprügelt. Sie wurden sexuell misshandelt. Sie wurden zwangsgefüttert und mussten selbst das Erbrochene vom Boden essen. Sie wurden 24 Stunden, Tag für Tag geängstigt und bedroht. Einige wurden isoliert, tagelang oder wochenlang, - das war Isolationsfolter. Sie wurden gegeneinander aufgehetzt. Sie wurden beleidigt und missachtet: Du bist asozial, Du bist Dreck. Man verweigerte ihnen die individuell angemessene Schulausbildung; manche ließ man jahrelang ein und dieselbe Schulklasse durchlaufen. Etliche leiden noch heute an den Folgen falscher medizinisch/orthopädischer Versorgung.
In einigen Heimen der Evangelischen Kirche und der damaligen Inneren Mission geschahen abscheulichste Verbrechen, die jede Vorstellungskraft sprengen. Es waren Kleinkinder und Schulkinder, die in einem Heim für behinderte Kinder untergebracht waren, das sich als Hort christlicher Nächstenliebe ausgab. Ihr Leiden ist in dem Buch "Gewalt in der Körperbehindertenhilfe - Das Johanna-Helenen- Heim in Volmarstein von 1947 bis 1967" und auf der Homepage www.gewalt-im-jhh.de der Opfergruppe dokumentiert. Damals hieß die Gesamteinrichtung in Volmarstein bei Hagen „Orthopädische Heil- Lehr- und Pflegeanstalten“. Heute: „Evangelische Stiftung Volmarstein“.
Nun, nach dem quälend langen Prozess der Aufarbeitung, nach der Konfrontation mit den erlebten Verbrechen in der Kindheit, nach Überwindung der Scham, vereinzelt auch nach Therapie der Traumata, verlangen sie eine Entschädigung, die dem Begriff gerecht wird. Sie wollen eine Opferrente. Und dieses Geld brauchen sie zur Gestaltung eines würdigen Lebensabends.
Die Evangelische Stiftung Volmarstein lehnt diese Forderung kategorisch ab. Sie verweist auf den Opferfonds, den der Deutsche Bundestag im vergangenen Jahr auf Vorschlag des Runden Tisches Heimerziehung eingerichtet hat: „Eine pauschale Entschädigung, wie Sie sie in Ihrem Brief fordern, ist dabei allerdings ausdrücklich ausgeschlossen. Vielmehr sollen Kosten z.B, für therapeutische Hilfen oder Einzelfallhilfen aus diesen Mitteln finanziert werden.“ Und sie erklärt, dass sie bereits in den Opferfonds einzahle: „Der Anteil, den die Diakonie zu erbringen hat, wird über die Diakonischen Werke der Landeskirchen gesteuert und von den Mitgliedseinrichtungen wie der Evangelischen Stiftung Volmarstein erbracht. Das heißt, jedes Mitglied des Diakonischen Werkes zahlt in diesen Fonds ein und stellt über den Bundesverband die Mittel für die regionalen Anlaufstellen zur Verfügung.“ Die Opfer der Volmarsteiner Anstalten mögen sich doch bei den Landschaftsverbänden Rheinland und Westfalen melden. Ein Trostpflaster hält die Evangelische Stiftung dennoch parat: „Die ESV wird besondere Verantwortung für solche Personen mit übernehmen, die sich in prekären Situationen befinden. Dies sind freiwillige personenbezogene Hilfeleistungen, die wir gegebenenfalls auch mit den Unterstützungsmöglichkeiten, die der Heimkinder-Fonds bietet, dann abgleichen werden.“ Zu einem Gespräch ist Stiftungssprecher Pfarrer Jürgen Dittrich „grundsätzlich bereit“ und fügt an: “ich werde mich allerdings in der Sache nicht anders verhalten als in diesem Brief beschrieben.“
Dies ist die zweite Ablehnung. Im Mai des vergangenen Jahres gab Pfarrer Dittrich der Arbeitsgruppe schon einmal schriftlich zu verstehen: „Eine einseitige und nur durch die Evangelische Stiftung Volmarstein zu tragende monatliche Opferentschädigung ... kann ich Ihnen nicht in Aussicht stellen.” Seine Begründung war die gleiche: Der Opferfonds.
Dierk Schäfer, evangelischer Pfarrer i R. bringt das Empfinden der enttäuschten Heimopfer auf den Punkt. „Genau das ist die Linie: sich erst vor dem Runden Tisch verstecken, dessen Ergebnissen man nicht vorgreifen will, und sich dann unter dem Runden Tisch verstecken und auf das verweisen, was aufgetischt wurde. Kein kritischer Blick auf die Ergebnisse, die sind ja sehr kommod, kein Blick ins Ausland, mir san mir!“

Kommentar:

Mit ihrer Verweigerungshaltung schadet die Evangelische Stiftung Volmarstein gleich dreifach.
Sie schadet zum einen ihren Opfern, bei denen sie moralisch in der Pflicht steht und aus der sie sich nicht durch den Ablasshandel am Runden Tisch Heimerziehung davonstehlen kann. Die Therapie der Opfer ist das eine, wirkliche Entschädigung in Form von Schmerzensgeldzahlungen und Opferrenten das andere. Zu viele Verbrechen hat sie unter ihrem Dach des Johanna-Helenen-Heims nicht nur geduldet, sondern sogar gefördert. Es gab genügend Beschwerden. Sie wurden schlichtweg ignoriert. Darum sind die Forderungen der Opfer berechtigt. Sie sind zugleich moderat: 400 Euro Opferrente für eine verpfuschte Kindheit, für ein Leben danach, das durch diese Verbrechen permanent beeinträchtigt ist. Es ist nicht glaubhaft, daß eine Einrichtung, die in den nächsten fünf Jahren für zwei weitere Krankenhäuser 10 Millionen Euro investieren will, die Entschädigung ihrer ehemaligen Heimkinder nicht finanzieren kann.
Die Evangelische Stiftung Volmarstein schadet zum anderen sich selbst. Die Mißhandlungen in der Vergangenheit sind das historische Unrecht. Die Verweigerung angemessener Entschädigung ist der aktuelle Betrug an den ehemaligen Heimkindern. Es geht nicht nur um Entschädigung der ehemaligen Heimkinder, sondern um die Ent-schädigung, also um die Rehabilitierung des Rufes der Stiftung. Die ehemaligen Heimkinder werden respektvoll dazu beitragen, die Bußfertigkeit der Stiftung zu bezeugen, wenn sie davon überzeugt werden.
Schließlich geht es auch um die Glaubwürdigkeit von Pfarrern ganz allgemein. Die vier Vorgänger von Pastor Dittrich haben von den Mißhandlungen gewußt. Pastor Hans Vietor tat nichts dagegen. Pastor Ernst Kalle ignorierte die Beschwerden damaliger Mitarbeiter. Pastor Rudolf Lotze wollte vom Versagen seiner Vorgänger nichts hören. Pfarrer Ernst Springer beleidigte, leugnete zunächst und verharmloste dann die Verbrechen; außerdem belog er die Öffentlichkeit und behauptete „erst jetzt“, also 2006, von den Greueltaten erfahren zu haben. Wo steht Pfarrer Jürgen Dittrich? Einst Hoffnungsträger der Geschundenen. Zunächst demotiviert er sie, Zeilen später bietet er ihnen ein Gespräch an. Welchen Sinn soll es haben?
Das Adjektiv „evangelisch“ im Namenszug Evangelische Stiftung Volmarstein sollte eine Verpflichtung sein, nämlich nach der „Frohen Botschaft“ zu handeln. Wie will sie ehrlich Spenden einwerben, wenn deutlich wird, daß es nur ums Geschäft geht?

http://gewalt-im-jhh.de/hp2/index.html
http://gewalt-im-jhh.de/hp2/ESV_Ablehnung_Opferrente_120511.pdf
http://gewalt-im-jhh.de/hp2/ESV_in_der_Pflicht_-_Endlich_V/ESV_Opferrent...