Virtuelles Schlachtfeld: Amazon/Hämische Kommentare und reale Drohungen

„Wer bin ich - und wenn ja, wie viele?“ steht in der aktuellen „Spiegel“-Bestsellerliste auf Platz 6 der Sachbücher. Bei Amazon gibt es 152 Rezensionen, die meisten sind positiv. Die philosophische Reise mit Richard David Precht hat sich gelohnt, finden sie und empfehlen das Buch weiter. Wenige äußern sich negativ, vertreten aber auch ihren Standpunkt. Das ist spannend, regt zum Lesen der Rezensionen und somit des Buches an.

Wird bei Amazon aber immer seltener. Ein Rezensent beklagt sich in seinem Profil: „Ich bedauere sehr, auf eine Rangliste gesetzt zu sein, deren Berechtigung so offensichtlich gar nicht gegeben ist, die dazu führt, dass Menschen sich, teilweise im Schutze der Anonymität, von ihrer schlechtesten Seite zeigen und die natürlich die Bedeutung eines Rezensions- und Diskussionsforums herabsetzen.“

Auf dem „Rezensenten-Olymp“ sitzt seit Jahren ein Schweizer. Eine Zeitung aus Deutschland und eine Zeitung aus der Schweiz haben über ihn berichtet. Doch: Seit Monaten drängt eine Frankfurterin nach oben, belegt Platz 3 und jetzt Platz 2. Diese Rezensentin traut sich kaum noch an den PC. Kaum hat sie einen Beitrag ins Netz gesetzt, hagelt es hämische Kommentare und negative Bewertungen.

Amazon verkommt zu einem verbalen Schlachtfeld, das sich längst schon nicht mehr auf die virtuelle Welt beschränkt. Autoren bekommen Drohanrufe, werden beschimpft und mit Verdächtigungen überhäuft, wenn sie die Frage stellen: „Wer seid Ihr - und wenn ja, wie viele?“ Insider schätzen: ein halbes Dutzend, die sich Recherchen zufolge in einem anderen Forum zu gemeinsamem Tun gegen die Frankfurterin verabreden.

Entsprechende Anfragen beantwortet Amazon nicht. Das seien interne Dinge, heißt es. Die sich auch so gestalten: Solidarisiert sich jemand mit der Nummer 2, wird er ebenfalls aufs Korn genommen und verächtlich gemacht. Wehrt sich der Betroffene, verschwinden seine Stellungnahmen in Nullkommanix. Wer diese Beiträge löscht oder löschen lässt, bleibt ebenfalls ein Geheimnis von Amazon.

Vor was eigentlich soll die Nummer 1 in der Rezensentenliste geschützt werden? Und warum schützt Amazon Rezensentinnen und Rezensenten, die kostenlos Beiträge schreiben und so zur Attraktivität des Portals beitragen, nicht vor Angriffen, die schon lange nicht mehr nur grotesk wirken? Warum werden Kommentare nicht bereits vor der Veröffentlichung moderiert, warum wird keine Stellung genommen zu diesem Geschehen, das man so betiteln könnte: „Ein Käfig voller Narren“?

Den sich Amazon nicht leisten sollte. Aber leistet. Wie das heute: Jemand weist in einem Kommentar darauf hin, dass Verlage wohl kaum amüsiert sind, wenn sie erfahren, dass auch positive Rezensionen von Büchern dem „Käfig voller Narren“ zum Opfer fallen. Kaum steht dieser Hinweis im Netz, wird er ebenfalls negativ bewertet. Denn bei Amazon kann man nicht nur Rezensionen als „hilfreich“ oder „nicht hilfreich“ einstufen, sondern auch Kommentare.

Eine Stunde lang dauert dieser Unfug, dann wird dieser Hinweis gelöscht, der Verfasser verliert seine Zugangsberechtigung zur Community. Geschrieben hat er dies: „Frage: Wie sehr freuen sich eigentlich Verlage, die bei Amazon Bücher anbieten, wenn wohlwollende Rezensionen nicht mehr erscheinen? Freuen die sich über jedes deswegen nicht verkaufte Exemplar?“

Ergo: Amazon hält auch diese Fragen nicht für berechtigt. Und so muss sich ein Rezensent, der sich schützend vor die Nummer 2 gestellt hat, wohl damit abfinden, dass seine Kommentare schnell wieder gelöscht und seine Beiträge über Neuerscheinungen in diesem Portal nicht mehr veröffentlicht werden.

Siehe auch http://tjadenzickt.blogspot.com


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