Sehen? Wahrnehmen?

Als Picasso mit geometrischen Figuren unsere Augen verführte, als Monet mit den Reflexionen des Lichts und Schatten unsere Augen verlockte, warum haben die Ahnen der Chinesen doch nur mit Schwarz/Weiß und einigen einfachen Strichen kompliziertes Innenleben ausgedrückt? Als die westlichen Künstler "Sehen" betonten, lag der Schwerpunkt in China doch im "Wahrnehmen".
Abgesehen von vielen kulturellen und philosophischen Hintergründen liegt der Unterschied vor allem in der Denkweise. Für Chinesen ist die Kunst der Kalligraphie der Vorgang, in dem man die eigene Lebenseinstellung bearbeitet und verbessert. Ihr Wert hängt nicht davon ab, ob man eine neue Technik oder neues Material verwendet, sondern davon, ob man ständig mit der inneren Welt arbeiten kann und es schafft das Kunstwerk zu inspirieren. Schon seit langer Zeit sucht die Kalligraphie nicht nur oberflächliche stürmische Betrachter sondern ehrliche Intimität.
Deshalb schreiben wir Kalligraphie nicht um dem äußerlichen Auge Freude zu bereiten. Kalligraphie ist für die Schreiber ein Gefühlsausdruck, für die Betrachter Gefühlswahrnehmung durch die Resonanz entsteht. Wenn wir bloß für Altes eine neue Form entwickeln, dann haben wir doch die Unsicherheit und Armut des Herzens offengelegt. Neben dem äußerlichen Auge sollen wir auch das innerliche Auge befriedigen. Das ist der eigentliche Respekt gegenüber den Menschen.