Präsident und Verfassung

Professor Bernd Rabehl zur Bundespräsidentenwahl 2009.

Am 23. Mai 2009 wählt die Bundesversammlung im Berliner Reichstag den neuen Bundespräsidenten. Zur Wahl stehen Amtsinhaber Horst Köhler (CDU), Gesine Schwan (SPD), Peter Sodann (Die Linke) und Frank Rennicke, der als nationaler Bewerber antritt. Gedanken zur Bundespräsidentenwahl von Prof. Dr. Bernd Rabehl, der ursprünglich selbst als Kandidat gehandelt wurde.

Der Arbeiterpräsident

Aus Anlass des Deutschlandtreffens der Freien Deutschen Jugend (FDJ), Anfang der fünfziger Jahre, gehörte ich zu einer Delegation von Jungen Pionieren, die den ersten deutschen Arbeiterpräsidenten, Wilhelm Pieck, im Köpenicker Schloss besuchen durften. Ein freundlicher, alter Herr empfing uns. Seine rundliche Figur schien den schwarzen Anzug zu sprengen. Mich überraschte die kleine Körpergröße. Eine rote Knubbelnase lenkte den Blick der Kinder wie ein Magnet auf sich. Er lachte wiederholt , scheinbar grundlos, auf. Die schlohweißen Haare schufen Vertrauen. Pieck wirkte auf uns wie ein gütiger Greis, der nur mühselig den Präsidenten spielen konnte. Er ließ heiße Schokolade ausschenken. Er war ein Freund der Kinder, hieß es. Sofort plauderte Pieck mit uns, nachdem wir ihm versichert hatten, dass wir gut lernten. Der Friedenskampf war uns eine Herzenssache, behaupteten wir. Schnell kam er darauf zu sprechen, dass er in seiner Jugend als Tischler gearbeitet hatte. Er zeigte uns einen Hobel und einen Spachtel. Wir sprachen plötzlich über Holzarten und darüber wie ein Stuhl geleimt wurde. Ich erregte seine Aufmerksamkeit, weil ich Bäcker werden wollte. Er ließ Kuchen und Kekse servieren. Einen Beruf sollten wir erlernen, gab er uns mit auf dem Weg. Nur Facharbeiter stünden treu zu ihrer Klasse.

Ein Liberaler im Präsidentenamt

Jahre später traf ich den Bundespräsidenten Theodor Heuss in der Rankeschule im Wedding, in Westberlin. Ein hochgebildeter Herr dozierte in schwäbischer Mundart über die Aufgaben des Präsidenten. Er vertrat auf seinen vielen Reisen die Bundesrepublik im Ausland. Überhaupt bestand sein Amt in erster Linie aus der Repräsentation deutscher Kultur und Politik. Er verlieh Verdienstkreuze an hervorragende Bürger, Wissenschaftler oder Schriftsteller. Wir Ostschüler erinnerten an Friedrich Ebert und an Feldmarschall von Hindenburg. Theodor Heuss kam ins Grübeln und versicherte uns, dass im Grundgesetz, jedoch auch in der frühen DDR-Verfassung, eine Entmachtung des Präsidenten stattgefunden hatte. Die Regierungsverantwortung trug im Westen der Bundeskanzler. Im Osten hatte theoretisch der Ministerpräsident das Sagen. In Wirklichkeit regierten jedoch der Generalsekretär und das Politbüro der SED. Bundespräsident Heuss gab den Oberschülern zu verstehen, dass im Westen bewusst von einer Zentralisierung der Staatsmacht abgesehen wurde.

Professorenschelte

Erst bei Professor Ernst Fraenkel an der Freien Universität lernte ich, dass die Verfassung der DDR und das westdeutsche Grundgesetz die Dispositionen einer gesamtdeutschen Verfassung trugen, falls die Großmächte sich über einen deutschen Friedensvertrag einigen konnten. Sowjetunion und Westmächte ließen außer Zweifel, Preußen als Land, Staat, Tradition, Geist aber auch als Militärmacht zu zerschlagen. Schon deshalb musste der Staat dezentralisiert werden. Das Präsidentenamt musste von einer zentralen Exekutive gelöst und zugleich von jedem Einfluss auf Armee oder Polizei isoliert werden. Beide Verfassungen zeigten nach Fraenkel die Handschrift der Besatzungsmächte. Sie wollten eine staatliche Souveränität in Deutschland vorerst unterbinden.

Der jüdische Professor, Spezialist auf dem Gebiet der Verfassungslehre, behauptete, dass alle großen, westlichen Verfassungen den Geist der Bürgerkriege und der Revolutionen enthielten. Sie demonstrierten einen Waffenstillstand und einen vorläufigen Kompromiss der Klassen. Ein starker Präsident wurde direkt vom Volke gewählt wie in USA, Frankreich oder Italien. Er verkörperte die Staatsexekutive gegen die Regierung und gegen den Parlamentarismus. Er verhinderte, dass die Regierungsparteien sich den Staat zur Beute machten und ihre Cliquen und Klüngel in die Zentralbürokratien schickten. Er hielt die Exekutive frei vom Einfluss der Parteien, von Korruption und Vetternwirtschaft. Die Idee des starken Präsidenten kam in Deutschland nicht primär aus der preußischen Tradition. Sie hatte bis 1933 ihren Rückhalt in der Gewerkschafts- und Arbeiterbewegung.

Der Doppelherrschaft zwischen Präsident und Parteien entsprach ein Doppelstaat. Der Rechtsstaat korrigierte die Maßnahmen der Regierung und sorgte für die Rechtsgültigkeit von Politik. Die Parteien als hierarchisierte Gruppierungen besaßen die immanente Tendenz, primär den Lobby- oder Interessengruppen zu dienen bzw. Eigeninteressen zu vertreten. Der vom Volk gewählte, plebiszitäre Präsident, frei vom Parteienproporz, würde dagegen vorgehen und zugleich die Arbeit der Staatsverwaltung vor dem Einfluss der Parteien schützen. In Deutschland waren die Siegermächte nach 1945 daran interessiert, ihre Parteigänger und Unterstützer über Parteienbündnisse, Koalitionen oder eine „nationale Front“, in die Regierungsverantwortung zu setzen. Sie ließen sich leicht von außen kontrollieren und festlegen. Das demokratische Spiel blieb bewahrt, obwohl die Parteipolitiker an der langen Leine der Fremdmächte liefen.

Kandidatur?

Als die Führungen von NPD und DVU an mich herantraten, für das Amt des Bundespräsidenten zu kandidieren, stimmte ich nach längerem Zögern zu. Für mich war wichtig, langfristig die Verfassungsfrage neu zu thematisieren. Ich wollte Öffentlichkeit erreichen. Kaum eine Handvoll Deputierter würde mich in der Bundesversammlung wählen. Nach 1989/90 wurde von Seiten der siegreichen Westeliten das Grundgesetz auf Gesamtdeutschland übertragen. Die geschlagenen Ostkader stimmten zu, weil ihnen die Teilhabe am Parteiengeschäft und die Angleichung hoher Pensionen an den Weststandard eingeräumt wurden. Außerdem wurden über die vielen Auslandskonten der SED keinerlei Nachforschungen angestellt. Die landwirtschaftlichen Großbetriebe blieben in der Hand bewährter Genossen. Die Ostkader bildeten mit den Westeliten einen Klüngel und waren zur grundsätzlichen Opposition nicht fähig. Als Parteigänger des Status quo würden sie zu keinem Zeitpunkt demokratische oder gar sozialistische Ziele anstreben.

Das Grundgesetz hatte die Parteienmacht gestärkt und zugleich die Demokratie der Bürger geschwächt. Am Beispiel des Bundespräsidenten wollte ich die Frage aufwerfen, ob die deutsche Verfassung als Grundgesetz sich demokratisieren und in eine potentielle „Volksherrschaft“ erweitern ließ. Ich würde den starken Präsidenten thematisieren, der fähig sein musste, wie in Frankreich und USA eine Gegenmacht zum Parteienstaat zu eröffnen. Für mich war vorerst die Fragestellung wichtig. Ich war ein Einzelgänger, ein „General“ ohne Armee, der auf die Unterstützung organisierter Kräfte angewiesen war. Linke, Sozialdemokratie, Grüne, Gewerkschaften bildeten mit den Eliten aus CDU/CSU, Wirtschaft und Finanzkapital eine unumstößliche Einheitsfront. NPD und DVU besaßen durchaus, so meine Einschätzung, das Format einer Radikalopposition, konnten sie sich von bestimmten Traditionen lösen. Die Verfassungskampagne war für mich genauso ein Experiment wie die Kooperation mit diesen Parteien.

Der Zeitpunkt schien günstig zu sein. Der Bundespräsident Köhler kam ursprünglich aus dem Internationalen Währungsfonds (IWF) und hatte als Banker Anteil am internationalen Bankskandal bzw. am Versagen der Aufsichtsbehörde. Einen funktionalen „Amerikaner“ zum Präsidenten zu küren, hatte Symbolkraft. Die Sozialdemokraten und Teile der Grünen favorisierten eine Karrierefrau, die Professorin Gesine Schwan, die das ideale Bild der Alibifrau in der Parteienpolitik abgab. Zugleich verharmloste sie den weiblichen Politikstil. Sie gab wiederholt zu verstehen, dass sie schon Glücksgefühle bekam, konnte sie präsentieren, Moden, Schmuck und schöne Frisuren feilbieten oder sich in edle Kleider hüllen. Allerdings musste die Kasse stimmen. Ihre kleinen Eitelkeiten und ihr Mediengebaren legten Zeugnis ab, dass sie das Präsidentenamt auf eine Talkshow verengen würde. Der Kandidat der Linkspartei war schon deshalb gut, weil er als Schauspieler und Komiker die ganze Prozedur der Wahl zur Satire machte.

Ausstieg

Ich bekam kalte Füße, weil sich schnell herausstellte, dass NPD und DVU „Kampagnen“ im Wechselspiel von Öffentlichkeit und Analyse nicht unterstützen konnten, obwohl die Führung der DVU diesen Politikstil sofort begriff. Vor allem waren sie zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Die NPD kämpfte um Reputation. Sie wurde durch Flügelkämpfe zerrissen. Es ging um Führungspositionen. Außerdem stand die Partei kurz vor der Pleite. Es war schwierig, den außerparlamentarischen Teil, die radikale Jugend mit der Politik der Partei zu verbinden. Die unterschiedlichen ausländischen Geheimdienste strengten sich an, die Partei außerhalb von Recht und Verfassung zu stellen. Mit „Rabehl“ wollte die NPD lediglich eine „gute Meldung“ lancieren, eine „gute Presse“ machen. Er sollte „ablenken“. Wie der „Professor“ sich als Privatmann, Vater von zwei Jugendlichen, Bürger und Wissenschaftler gegen die Dreckschleudern oder gegen persönliche Bedrohungen behaupten konnte, war der Partei vorerst egal.

Der „Radikalismus“ der beiden Parteien beschäftigte mich. Allerdings wusste ich, dass Geschichte sich nicht wiederholte. Eine Opposition gegen das internationale „Finanzkapital“ wird erst Format in der Verteidigung nationaler und europäischer Werte finden. „Faschismus“ umfasste dagegen wie der „Bolschewismus“ in der Vergangenheit die politische und ideologische Mobilmachung von Außenseiterund Revolutionsparteien im Bürgerkrieg. Militante Ideologien, zentrale Parteien, Kriegermentalitäten, charismatische Führer wirkten in einer Krisen- und Nachkriegssituation primär auf die entwurzelte Jugend und die ehemaligen Soldaten. Sie eroberten putschartig den Staat und verbanden den Terror gegen den politischen Gegner mit der Massenpropaganda. Für die „feindlichen Brüder“ bedeutete Krieg die große Revolution, die alles umwälzte, den Feind vernichtete und ein neues Volk schuf. Heute haben andere Staaten diese Erbschaft angetreten, weiß Hannah Arendt zu berichten.

Im Zweiten Weltkrieg wurden deutscher Nationalsozialismus und italienischer Faschismus militärisch besiegt. Der russische Bolschewismus überlebte als Sieger. In der Brutalität und im Terror war er kaum humaner oder demokratischer als der faschistische und nationalsozialistische Feind. Es gab heute keine Wiederkehr von Staaten, Parteien, Diktaturen oder Ideologien. In der Linkspartei gibt es heute genug Tschekisten oder Bolschewisten. Trotzdem wird sie nie mehr die Rolle einer Diktaturpartei spielen. Der Radikalismus von „Faschismus“ und „Bolschewismus“ lässt sich heute auf Folklore, auf Kostümfeste, oder „Trachtentreffen“ festlegen. Er besitzt in Zentraleuropa keinerlei Aktualität. Sentimentalitäten werden geboten. Der „Extremismus“ als Propagandafloskel wird allerdings benötigt, um von aktuellen Machtfragen und Kriegen abzulenken. Es macht sich gut, die linke Jugend auf einen Phantomfaschismus zu hetzen. Dadurch verliert sie vorerst die eigenen Ziele.

Bernd Rabehl

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Prof. Dr. Rabehl: Der Soziologe und langjährige Freund Rudi Dutschkes war einer der wichtigsten Theoretiker der Außerparlamentarischen Opposition und des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS).


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