Hans Georg van Herste auf Tour: Ein Küchenbrand in Indien und seine Folgen

Im Laufe der Jahrzehnte bin ich viel in der Welt herumgekommen. Indien habe ich etwa zehnmal besucht, da ich dort eine Ausbildung gemacht und ein privates Hilfswerk gegründet und überwacht habe.
Ende 1994 gab es Alarm. Ich erhielt einen Anruf und packte meinen Koffer. In meinem Haus, in der Nähe von Chennai (früher Madras), in dem eine Armenküche untergebracht war, hatte es ein Feuer in der Küche gegeben. Als ich nach fast dreizehn Stunden Flug völlig erschöpft dort ankam, musste ich feststellen, dass von der Einrichtung nicht mehr viel übrig geblieben war.
Im Grunde genommen hatten wir Glück im Unglück. Erstens hatte es keine Verletzten gegeben und zweitens hatte das Feuer nicht auf das ganze Haus übergegriffen. Da wir auf Holz als Baumaterial so gut es ging verzichtet hatten, waren nur Küche und Flur verkokelt.
Einheimische Handwerker waren schnell aufgetrieben und so konnte das Essen schon nach wenigen Tagen wieder verteilt werden. Allerdings hatte ich mein Konto ziemlich überziehen müssen, da auch in Indien Küchengeräte für eine Großküche viel Geld kosten. Was soll´s, dachte ich, das machen die glücklichen Kinderaugen locker wieder wett und irgendwie hole ich das Geld schon wieder rein.
Da ich zu Weihnachten wieder daheim sein wollte, buchte ich schnell einen Rückflug. Da die Direktflüge ausgebucht waren, hatte ich ein Ticket über Delhi nehmen müssen. Das war zwar ein Umweg, aber ja nicht zu ändern. Leider war der Herr hinter dem Schalter wohl etwas unaufmerksam. Als ich nämlich einen Tag später meinen Flug antreten wollte, wurde mir mitgeteilt, dass man mich nirgends auf der Passagierliste finden und der nächste freie Sitzplatz erst in zwei Tagen frei sein würde. Also ließ ich mich zur Armenküche zurückfahren und harrte der Dinge, die kommen mochten.
Da ich über der Küche und dem Essensraum nächtigen konnte, packte ich nun zum zweiten Mal meine Matte aus. Obwohl das Haus des Nachts bewacht wurde, schaffte es ein Dieb über das Dach des Nachbarhauses auf unsere Dachterrasse vorzudringen. Allerdings kam er nicht sehr weit. Auf dem Weg von der Dachterrasse in den Schlafraum traf er auf eine Erscheinung, die ihn furchtbar erschreckt haben musste.
Viele Inder sind total abergläubisch und das bewahrte uns offen-sichtlich vor einem Diebstahl. Eine Freundin aus Österreich war vor ein paar Tagen angereist und nächtigte ebenfalls in der mittleren Etage. Sie hatte ob der Mücken nicht schlafen können und hatte sich auf den Weg zur Dachterrasse gemacht. Sie ist etwa 1,82 m groß, hat hüftlange weiße Haare und trug ein bodenlanges weißes Nachthemd.
Als der Dieb über die Treppe zu uns hinunter wollte, traf er auf diese Frau. Da der Dieb, wie viele Inder, relativ klein war, stand er plötzlich vor dieser für ihn riesenhaften Erscheinung, bekam einen fürchterlichen Schrecken, drehte auf dem Fuße um und stürmte davon. Meine Freundin, selbst erschrocken, stürmte ihm nach, konnte aber nur noch so eben erkennen, wie der Dieb mit einem gewaltigen Satz vom Dach sprang.
Er schlug unten auf und schrie. Er hatte sich offensichtlich verletzt. Sofort waren die Wächter heran und schlugen mit ihren Knüppeln auf ihn ein. Durch den Lärm wach geworden, stand ich auf, um nach dem Rechten zu sehen. Ich rief die Wächter zurück und besah mir das elende Bündel. Der Mann war dermaßen ausgemergelt, dass man eher Mitleid mit ihm haben musste, als Wut auf seine Tat. Ich untersuchte ihn kurz, konnte aber keine schweren Verletzungen feststellen. Anschließend lud ich ihn zum Essen in unsere Küche ein. Er war absolut erstaunt über mein Vorgehen, da er wohl schon den Tod vor Augen gehabt hatte.
Er fiel mehrmals auf die Knie und dankte mir für seine Rettung und das Essen. Da ich solche Dankesbezeigungen nicht leiden kann, forderte ich ihn auf, sofort aufzustehen. Es dauerte bestimmt eine halbe Stunde, bevor er begriff, dass er mit gegenüber sitzen durfte. Es stellte sich schnell heraus, dass er aus Not versucht hatte, uns zu bestehlen und nicht aus Habgier. Am nächsten Morgen zeigte er mir seine elende Hütte, die aus vergammelten Palmblättern notdürftig zusammengeflickt worden war.
Seine Frau und seine drei Kinder sahen genauso heruntergekommen aus, wie er selbst. Ich lud die ganze Familie zum Essen ein. Als es Abend wurde, kamen plötzlich gut hundert Personen auf mich zu. Der gute Mann hatte all seinen Nachbarn erzählt, welch „gütiger“ Mann ich sei und alle schüttelten mir die Hand und bedankten sich für die Freilassung des Diebes. Anschließend bekamen alle ein großes Palmblatt (das ist dort so üblich, da kein Mensch Geschirr hat) voller Reis und Gemüse. Kein Krümelchen blieb übrig.
So hatten sich meine Flugverschiebungen doch noch gelohnt. Endlich saß ich im Flieger nach Delhi. Als ich dort im National-Airport ankam, kam mir schon ein Mann entgegengelaufen. „Mr. Herste? Mr. Herste?“ Als ich nickte, ergriff er meine Hand und versuchte, mich hinter sich herzuzerren. Ich blieb stehen und wehrte den Mann ab. Auf den Flughäfen in Indien – und auch anderswo – gibt es viele Schlepper, die versuchen, den unwissenden Passagier in ein bestimmtes Hotel zu locken. Da ich diese Unart bereits kannte, ließ ich mich nicht beirren.
Als er bemerkte, was in mir vorging, drehte er sich um und lächelte mich an. Dann erklärte er mir, dass der Freund einer Nichte eines Schwagers ihn angerufen und ihm mitgeteilt hätte, dass ich den Freund seines Freundes vor dem sicheren Tode bewahrt hätte. Ich muss ein furchtbar dummes Gesicht gemacht haben, da er erneut anfing zu lachen. Es stellte sich schlussendlich heraus, dass dieser Werauchimmer in Chennai dabei gewesen sein musste.
Schon hatte er meinen Koffer an sich gerissen und stürmte damit aus dem Flughafengebäude. Ich rannte ihm nach und stand plötzlich vor einem alten klapprigen Auto. Mein „Kofferdieb“ war gerade dabei, mein Gepäck im Kofferraum zu verstauen. Er hielt mir die Tür auf und lud mich in sein Auto ein. Da ich ein wenig zögerte – mir war immer noch nicht ganz wohl bei der Geschichte –, gab er mir einen kleinen Stoß. Kaum saß ich, brauste er auch schon durch das Verkehrsgetümmel.
Zwischen zwei Hupern erklärte er mir, dass wir uns beeilen müssten, da sonst mein Flug nach Frankfurt ohne mich stattfinden und ich meinen Kirchgang verpassen würde. In halsbrecherischem Tempo – das war ich Gott sei Dank gewohnt – chauffierte er mich durch die Millionenmetropole. Er konnte sogar noch soviel Zeit herausfahren, dass es für uns beide noch für einen Kaffee reichte.
Wir stellten uns kurz vor der Passkontrolle an ein Stehcafé. Als ich mit meinen letzten Rupies den fürchterlichen Instantkaffee bezahlen wollte, winkte der Barmann freundlich ab und erklärte mir, dass er ein guter Freund meines Chauffeurs sei und von meinen Heldentaten schon gehört hätte. Ich bedankte mich freundlich, steckte mein Geld wieder ein, verabschiedete mich von den beiden und ging in Richtung Kontrollschalter davon. Aus den Augenwinkeln konnte ich noch sehen, dass der Barmann zum Telefon griff. Wegen des Flughafenlärms sagte er sehr laut: „he`s comming.“
Die Dame an der Passkontrolle lächelte mir schon freundlich entgegen, schlug meinen Pass auf, setzte einen Stempel hinein, ohne auch nur einen Blick auf mein Visum getan zu haben und reichte mir das Dokument zurück. Auf dem Weg zu meinem Gate fiel mir siedendheiß ein, dass der Fahrer ja noch meinen Koffer im Auto hatte. Ich drehte sofort um und rannte zurück zur Sperre. Der Mann stand Gott sei Dank noch am Stehcafé und schrie ihn von weitem an. Er drehte sich zu mir um und lächelte. „My Bag-gage is in Your Car!“ „No, Your Baggage is on the way to Your Plane!“ Erleichtert winkte ich den zwei Männern zu und rannte zu meinem Gate. Jetzt erst wurde mir bewusst, dass im Hintergrund Weihnachtslieder in deutscher Sprache liefen. Langsam wunderte mich gar nichts mehr.
Als ich mein Gate erreicht hatte, musste ich noch fast eine Stunde warten, da meine Maschine Verspätung hatte. So hatte ich die Gelegenheit, die gesamte Weihnachtslang-spielplatte von Udo Jürgens zu hören. Als mein Flug aufgerufen wurde, ging ich zur Tür. Dort stand eine junge Flughafenmitarbeiterin. Sie ließ alle Passagiere an sich vorbeigehen und stellte sich mir plötzlich in den Weg. Ich erschrak und dachte, jetzt lassen die dich wieder nicht mitfliegen, weil irgendwas mit Pass oder Ticket nicht in Ordnung ist.
Sie lächelte mich an, gab mir die Hand und bedankte sich für die Hilfe, die ich in Chennai geleistet hätte. Ich solle mich nun beeilen, da ich, wie alle Deutschen, Weihnachten in eine Kirche ginge. Sie hoffe, die Weihnachtsmusik wäre nach meinem Geschmack gewesen. Man hätte erst eine solche auftreiben müssen, da man in Delhi solche Musik nur selten hören würde. Ich war sprachlos.
Kaum hatte ich das Flugzeug betreten und nach meinem Platz in der Touristenklasse Ausschau gehalten, wurde ich von einer freundlichen Stewardess zu einem freien Platz in der Business-Class geführt. Ich zeigte ihr mein Ticket, um ihr zu zeigen, dass sie einen Fehler gemacht hatte. Sie nickt mir freundlich zu und erklärte, das sei alles so in Ordnung. Ein Fluggast hätte kurzfristig abgesagt und da ich so viel Gutes für Wenauchimmer getan hätte, wäre das nun mein Platz. Nach einem fürstlichen Mahl, lehnte ich mich zurück und genoss den Flug über den Wolken. Die Stewardess kam mehrfach zu mir, um mich nach meinen Wünschen zu fragen. Zum Abschied gab sie mir die Hand und bedankte sich noch einmal für meine Hilfe für den Wenauchimmer.
Als ich in Bremen – nach dem Umsteigen in Frankfurt – meinen Koffer vom Band nahm, zeigte die Flughafenuhr zwanzig Minuten nach Mitternacht. Ich war also am Heiligen Abend gelandet.
Alle drei Kinder des Diebes sind auf mein Betreiben hin zur Schule gegangen. Die älteste Tochter studiert heute, schickt mir ab und zu eine Karte und erinnert mich dadurch immer wieder an den Küchenbrand und seine Folgen.

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