Oberstaatsanwalt: "Der Rechtsstaat ist erodiert"

Wie schlimm steht es wirklich um den deutschen Rechtsstaat? Der Berliner Oberstaatsanwalt Ralph Knispel rechnet in seinem Buch "Rechtsstaat am Ende: Ein Oberstaatsanwalt schlägt Alarm" gnadenlos mit der Politik ab. Denn genau diese ist seiner Meinung nach dafür verantwortlich, dass der Staatsapparat in weiten Teilen kaum noch funktionsfähig ist. Im Interview mit ntv.de erklärt er, welche Probleme besonders alarmierend sind und was getan werden müsste, um diese zu lösen.

ntv.de: Der Fußballspieler Christoph Metzelder hat wegen der Weitergabe kinder- und jugendpornografischer Bilder eine Bewährungsstrafe von zehn Monaten bekommen, während beispielsweise eine Rentnerin zu einer Haftstrafe verurteilt wurde, weil sie aus Hunger mehrere Ladendiebstähle beging. Verstehen Sie, warum viele Menschen am deutschen Rechtsstaat zweifeln?

Ralph Knispel: Jeder Fall ist einzeln zu bewerten. Bevor man das beurteilt, muss man natürlich alle Einzelheiten des Verfahrens kennen. Wenn man bestimmte Strafen in Relation setzt zu Ereignissen und anderen Verfahren, läuft man immer Gefahr, sogenannte Äpfel mit Birnen zu vergleichen. Tatsächlich kommt es auf den jeweiligen Einzelfall an. Natürlich kann ich verstehen, dass die Bevölkerung hier verwundert, befremdet oder verärgert ist.

Führen solche Urteile aber auch nicht dazu, dass der Rechtsstaat zunehmend ein Imageproblem hat und das Vertrauen in der Bevölkerung sinkt?

Es gibt sicherlich einzelne Verfahren, die aufgrund ihrer Besonderheit die Bevölkerung im Vertrauen, was den Rechtsstaat anbelangt, verunsichern. Allerdings warne ich davor, einzelne Urteile dazu heranzuziehen. Was Verfahren wie das von Metzelder oder anderen Prominenten angeht, die durch die Medien gehen, wird das den einen oder anderen verunsichern, aber das ist für mich nicht Anlass der Kritik. Dazu fühle ich mich auch nicht berufen. Ich stütze mich in meinem Buch auf Ereignisse, die deutlich greifbarer sind. Dazu zählen insbesondere die Aufklärungsquoten. Wir in Berlin liegen seit vielen Jahren ganz am Ende der Tabelle innerhalb Deutschlands. Im Corona-Jahr 2020 hatten wir eine Aufklärungsquote von 46,1 Prozent und in Bayern von 66 Prozent. Das ist ein Unterschied von fast 20 Prozent. Solche Zahlen und Abweichungen ziehen sich tatsächlich schon durch die ganzen Jahre hindurch. Das betrifft die Bevölkerung viel mehr, wenn sie feststellen muss, dass sowohl Polizei als auch Justiz nicht in der Lage sind, die Straftaten umfassend aufzuklären. Noch so ein Beispiel sind lange Verfahrensdauern. Einzelne Verfahren können sich über Jahre hinziehen, oftmals bedingt auch durch die Einsparungen bei Justiz und Polizei. Diese führen dazu, dass die Aufgaben nicht mehr in der Zeit sowie Qualität erledigt werden können, die die Bevölkerung erwarten darf. Das führt dann tatsächlich zu dem Vertrauensverlust in den Rechtsstaat.

Woran liegt es, dass viele Strafverfahren eingestellt werden?
Es gibt viele Ursachen dafür. Natürlich ist ein Verfahren, in dem der erforderliche Tatnachweis nicht geführt werden kann, einzustellen. Das ist auch gut so. Aber es gibt natürlich andere Verfahren, die einfach durch den Arbeitsanfall bei Staatsanwaltschaften und Gerichten dazu führen, dass diese Verfahren nicht mehr mit genügend Sorgfalt bearbeitet werden können. Um das herunterzubrechen auf den einzelnen Bearbeiter in einem solchen Verfahren: Wenn Sie sich jeden Tag einem Berg von Arbeit ausgesetzt sehen in dem Wissen, dass am nächsten Tag mindestens ein genauso großer Berg auf Sie zukommt, müssen Sie schnellstmöglich um Erledigungen bemüht sei. Das führt dazu, dass diese Kollegen dann nicht mehr in der Lage sind, das anzuwenden, was sie im Laufe ihrer Ausbildung gelernt haben. Es kommt dann zwangsläufig zu Qualitätseinbußen. Natürlich werden die Verfahren ohne eine Rechtsbeugung abgeschlossen, aber dann nicht mehr in der Tiefe, die tatsächlich denkbar und machbar ist. Das gilt ebenso für die Polizei, denn dort herrscht ebenfalls ein ganz großer Personalmangel, der dazu führt, dass die Arbeit, die die alle gelernt haben, nicht mehr so verrichtet werden kann, wie es eigentlich sein soll.

Würde also genügend Personal die Probleme, die der Rechtsstaat hat, lösen?
Auch jede noch so große und intensive Verstärkung von Polizei und Justiz wird nie dazu führen, dass ein Idealzustand erreicht wird. Aber natürlich müssen sich Regierungsverantwortliche die Frage gefallen lassen, weshalb wir in der Bundesrepublik Deutschland teilweise bis zu 20 Prozent Unterschied bei der Aufklärungsquote haben. Das können Sie weder mit religiösen noch ethnischen Gründen erklären. Das ist einfach eine Frage, wie die Justiz auch politisch angesehen ist und inwieweit die Regierungsverantwortlichen dann bereit sind, Geld in die Hand zu nehmen. Man muss Polizei und Justiz zwingend in die Lage versetzen, ordnungsgemäß zu arbeiten.

Das ist ein Problem, das eigentlich gar nicht existieren dürfte.
Richtig. Der Rechtsstaat ist schon erodiert und in weiten Teilen des Strafrechts nicht mehr voll funktionsfähig. Er ist ein ganz wesentlicher Pfeiler der Demokratie und wenn der wegbricht, haben wir die ganz große Gefahr, die sich auch jetzt schon teilweise verwirklicht, dass die Menschen sich politisch randständigen Kreisen zuwenden, die sich genau das Thema Rechtsstaat und Sicherheit auf die Fahne schreiben.

Wo genau ist der Rechtsstaat nicht mehr voll funktionsfähig?

Das beginnt bei der Polizeiarbeit, bis hin zu Kleinigkeiten. Zum Beispiel müssen Menschen auf das Eintreffen der Polizei länger warten als früher. Das geht weiter bei den Ermittlungen. Das betrifft die wenigsten Menschen im Bereich der Organisierten Kriminalität oder Tötungsverbrechen, aber andere Deliktsfelder wie Diebstähle, Betrugstaten oder Körperverletzung. Dort ist die Justiz nicht mehr in der Lage, in angemessener Zeit überhaupt zu reagieren. In Berlin hatte das kriminaltechnische Institut zum Jahresende 2020 über 38.500 unerledigte Gutachtenaufträge. Dazu dauert die Untersuchung von Fingerabdruckspuren 70 Werktage - das sind ungefähr zweieinhalb Monate. Noch viel länger dauert es bei der Auswertung sogenannter DNA-Spuren. Das führt dazu, dass Sie insbesondere im Bereich der Wohnungseinbruchsdiebstähle teilweise zwei und mehr Jahre darauf warten, bis eine Spur so analysiert und in eine Kartei eingestellt worden ist, um einen Spurenverursacher herauszufinden und zu ermitteln.

Welche Folgen kann das im schlimmsten Fall haben?
Insbesondere in Städten wie Berlin oder Frankfurt am Main, wo Sie es häufig mit reisenden Tätern zu tun haben, können Sie nicht mehr nach zwei oder drei Jahren nach Beschuldigten suchen und denen Gelegenheit geben, sich zu der Sache zu äußern. Die sind dann längst über alle Berge.

Treffen die starken zeitlichen Verzögerungen auch auf Gerichtsverfahren zu?
In Berlin sind wir insbesondere bei amtsgerichtlichen Verfahren vergleichsweise schnell bis zum Beginn einer Hauptverhandlung. Wenn die Staatsanwaltschaft oder der Angeklagte aber Berufung einlegt, kann es zwei oder mehr Jahre dauern, bis eine Hauptverhandlung beim Landgericht stattfindet. Die Angeklagten bekommen für die von ihnen nicht zu verantwortende Verzögerung letztlich einen Strafnachlass gewährt. Das führt dazu, dass die Strafen nicht mehr dem entsprechen, was eigentlich bei schnellerer Verurteilung zu erwarten gewesen wäre. Doch es gibt auch Beispiele bei anderen Verfahren mit schwerwiegenden Vorwürfen. So hatten wir in Berlin ein Verfahren, dem lag ein Mord an einem Menschen aus dem Rockermilieu zugrunde, das bis zur erstinstanzlichen Verurteilung rund sechs Jahre gedauert hat.

Viele Menschen glauben auch, dass die deutsche Polizei und Justiz zu "lasch" durchgreifen und dadurch Täter zu wenig von Straftaten abgeschreckt werden. Würden Sie sagen, dass auch bereits die Autorität des Rechtsstaates gelitten hat?

Die Autorität des Staates ist in weiten Teilen schon ins Wanken geraten. Wir haben in Berlin ein besetztes Haus an der Rigaer Straße 94, das bereits über die Grenzen Berlins hinaus bekannt ist. Das Haus ist besetzt von mutmaßlichen Straftätern. Auch dort gehört es zur Alltäglichkeit, dass die Polizei fast immer in Gruppenstreifenstärke hinfährt, weil wir die normale Funkstreifenbesatzung mit nur zwei Beamten dort ohne deren Gefährdung gar nicht mehr hinschicken können. Die werden nämlich regelmäßig mindestens verbal und teilweise sogar körperlich attackiert. Erst letztes Jahr wurden ein Rechtsanwalt und Verwalter der Eigentümerin vor dem Haus aus einer Gruppe von 10 bis 15 Personen angegriffen. Einer der beiden wurde sogar zu Boden geschlagen und die Polizisten standen daneben und sahen zu, wie sich die Gruppe mit den Angreifenden ins Haus zurückzieht und die Tür verschließt. Da stellt sich die Allgemeinheit die berechtigte Frage, warum die Polizei da nicht das tut, was sie in jedem anderen Fall täte - nämlich nachzueilen, gegebenenfalls zu durchsuchen und Personalien festzustellen.

Warum war die Polizei untätig?
Die Polizei sieht sich vielfach nicht in der Lage oder es fehlt der Mut, Recht und Gesetz umzusetzen. Es wird eben politisch nicht immer der Rückhalt gefunden, der der Polizei eigentlich gebührt. Die Polizeibeamten hätten gewiss liebend gerne eingegriffen, sahen sich aber durch die politischen Vorgaben daran gehindert. Die Polizeipräsidentin versuchte anschließend dieses Vorkommnis in einem Interview damit zu begründen, dass, sobald die Tür von der Angreifergruppe verschlossen worden war, kein Raum mehr für "Gefahr im Verzuge" bestanden hatte. Bei so einer Begründung würde man einem Jurastudenten im ersten Semester sagen, dass Strafrecht wohl nicht sein Ding ist. Denn diese Aussage der immerhin promovierten Juristin entspricht schlicht nicht der Rechtslage.

Gibt es rechtsfreie Räume in Deutschland oder ist das nur ein Mythos?
Natürlich gibt es keinen Raum, in dem Recht nicht herrscht. Aber das, was der Frage zugrundeliegt, kann und muss ich leider bestätigen. In der Tat gibt es Regionen, in denen Recht und Gesetz in weiten Teilen nicht mehr umgesetzt werden kann und wird. Dazu zählt unter anderem der Görlitzer Park in Berlin. Ich will nicht behaupten, dass dort Drogenhändler oder andere Verdächtige nicht verfolgt werden. Nur erlangt die Bevölkerung eben diesen Eindruck, wenn vielfach nach Feststellung der Personalien diese Tatverdächtigen innerhalb kürzester Zeit genau wieder an diesen Orten erscheinen und ihr Treiben fortsetzen. Das bewirkt natürlich in der Bevölkerung vielfach den schwer zu widerlegenden Eindruck, dass der Staat dort nicht mehr in der Lage ist, Zähne zu zeigen und konsequent zu sein.

Wären hier strengere und häufigere Kontrollen eine Lösung?
Natürlich können Sie durch verstärkten Polizeieinsatz in bestimmten Gebieten dafür sorgen, dass genau dort die Kriminalität zurückgedrängt wird. Nur wenn Sie zu wenig Personal haben, taucht die Kriminalität an anderen Stellen oder Orten wieder auf. Das ist leider die Wirklichkeit.

Viele Menschen haben den Eindruck, dass der Rechtsstaat gerade beim Thema Clankriminalität versagt. Wie sehen Sie das?
Ein Clan beschreibt eigentlich nur ethnisch abgeschottete Minderheiten, die ein sehr zurückgezogenes Dasein führen und sich von anderen Personenkreisen abschotten. Nicht alle Mitglieder eines Clans sind Kriminelle, aber es gibt sie. Solche Clanmitglieder sind meistens im Rahmen der Organisierten Kriminalität tätig. Es wird oft der Eindruck erweckt, als würde dort nicht dagegen vorgegangen. Die Aufklärung von Straftaten gestaltet sich im Bereich der Organisierten Kriminalität in der Tat als schwierig. Wir tun alles mit den uns zur Verfügung stehenden Mitteln dafür, um Straftaten so aufzuklären, wie man sich das wünschen würde.

Was tun sie konkret dafür, um die Clankriminalität einzudämmen?
Das, was in der Bevölkerung wahrgenommen und in der Politik kritisiert wird, ist die Strategie, gegen sogenannte clanbasierte Einrichtungen vorzugehen mit Kontrollen. Es handelt sich dabei um Barber-Shops, Shisha-Bars und andere Einrichtungen. Da wird konsequent kontrolliert und eigentlich nur das getan, worauf der Staat und seine Gesellschaft den Anspruch hat, nämlich die Einhaltung seiner Gesetze. Da sehen sich sowohl die Beamten als auch die Justiz immer wieder Beschimpfungen ausgesetzt. Es geht hier nicht um irgendwelche rassistischen Vorgehen, sondern einfach um die Kontrolle bestimmter Einrichtungen. In Nordrhein-Westfalen, aber auch Berlin werden dann oft unversteuerter Tabak gefunden oder Verstöße gegen das Gaststättengesetz und Arbeitnehmerschutzvorschriften festgestellt. Wir stehen hier noch am Anfang und haben einen ganz enormen Rückstand, den es aufzuholen gilt. Und das wird sich viele Jahre hinziehen.

Könnte man denn nicht auch verdeckt ermitteln?
In kriminelle Clans Polizeibeamte als verdeckte Ermittlern einzubringen, ist bei diesen Kreisen extrem schwierig, weil die Mitglieder sich zurückhaltend aufbauen und organisiert sind. Die Ermittlungsansätze sind dort eingeschränkt. Zudem liefen die Polizeibeamten Gefahr, mit ihrem gesetzestreuen Verhalten schnellstens mindestens Argwohn hervorzurufen. Mit anderen Worten: ihre Enttarnung droht dort fast zwangsläufig.

Leidet die Justiz aufgrund politischen und medialen Drucks? Kann es so passieren, dass die Neutralität gefährdet und mit zweierlei Maß gemessen wird?
Also, die Justiz lässt sich weder durch die Politik noch durch die Medien unter Druck setzen. Ich sehe hingegen, dass die Arbeit der Polizei durch viele politische Vorgaben zumindest erschwerend begleitet wird. Bei der Bewegung "Fridays for Future", die ich als Beispiel auch in meinem Buch angeführt habe zu diesem Thema, will ich den Menschen ihre positiven Motive nicht absprechen. Es geht aber um die Frage, warum die Versammlungsfreiheit nur innerhalb der Schulzeit wahrgenommen werden kann. Weshalb soll es nur unter Verstoß gegen die Schulpflicht möglich sein, zu demonstrieren? Was ich im Buch auch anspreche, sind Gruppen oder Menschen, die glauben, aufgrund einer behaupteten größeren moralischen Stärke rechtskräftige oder bestandskräftige Entscheidungen von Gerichten oder Behörden infrage stellen zu dürfen. All das sind Dinge, die den Rechtsstaat natürlich erschüttern und seine Bevölkerung befremden. Da stellen rechtstreue Bürger natürlich die Frage, warum sie im eigenen Umfeld beispielsweise bei Verkehrssünden oder anderen Ordnungswidrigkeiten vermeintlich konsequent verfolgt werden, wohingegen in anderen Bereichen Straftaten sehenden Auges hingenommen werden. Selbst wenn man den von Ihnen beschriebenen Druck tatsächlich oder vermeintlich spürt: Ich erwarte von jedem Amtsträger und jedem Richter, dass man sich von diesem Druck freimacht. Wir unterliegen unserem Gewissen und haben zudem einen Eid geschworen. Der beinhaltet gerade nicht, bestimmten politischen oder medialen Vorgaben Folge zu leisten.

Mit Ralph Knispel sprach Isabel Michael

Quelle: ntv.de


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