Theodor Lessing (Theaterkritiker): Kleine Schriften 1906-1907

Ein festliches Haus. Alle Ränge dicht besetzt. Die städtischen Behörden.
Das städtische Orchester unter Leitung Walter Mundrys.
Neue Requisiten, neue Kostüme, neue Kulissen. Neue Schauspieler und ein neuer Direktor. Und alles in Spannung: wie wird sich die erste Vorstellung im neuen Kurse bewähren? Welchen Griff hat die Stadt mit der neuen Direktion getan? Man gab Schillers ›Jungfrau‹.
Volksvorstellung zu ermäßigten Preisen. Die beste Vorwegnahme des Wohlwollens. Denn im Namen Schiller finden sich in Deutschland die widersprechenden Elemente. Er ist unser aller Jugend, Dichter der Jugend und des weiten Volkes. Und wer Volk und Jugend hat, der hat die Zukunft. Die meisten Mitglieder des Personals und die Möglichkeiten des Fundus konnten Revue passieren. Aber nach dem ersten Auftreten schon über die darstellenden Künstler schreiben zu wollen, wäre geschmacklos. Dieser erste Abend machte einen von Grund aus würdigen Eindruck.

Nachtkritiken
Kleine Schriften 1906-1907
Theodor Lessing
Wallstein Verlag
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Das Zusammenspiel, die Ausstattung, die Regie erschienen tadellos. Nur in Kleinigkeiten fiel mir dies oder jenes auf: in der Kerkerszene wirkt die Haltung der Personen wunderlich, die nur vier Stufen ersteigen müssen, um eine Schlacht zu sehen, aber sie sich doch nur schildern lassen; auch sollte Lionel, wenn er zu Johanna Liebesworte sagt, die Mitte der Bühne nehmen; nicht vor dem Ohre der Wächter sprechen; im ersten großen Monolog sollte vielleicht die Jungfrau bei der Apostrophe des Helms den Helm nicht auf dem Haupte haben. Die Darstellung der Johanna (Käte Strömburg) wurde von Akt zu Akt glücklicher, fing schwer deklamatorisch und unfrei an und war wirklich ergreifend in der großen Szene mit Lionel.
Die weichen lyrischen Momente schienen der Künstlerin näher zu liegen, als die stolze, starre Härte der dornigen Jungfrau. Diese Unnahbarkeit muß aber stark betont sein, wenn die subjektive Tragik ihres Penthesilenengeschickes begreiflich werden soll. Die subjektive Tragik! Denn ihre objektive Tragik ist ein grausamerer Widersinn, trotz aller Schulaufsätze, die wir darüber schreiben mußten … Ich möchte nun am ersten Abend nichts weiter über die neuen Kräfte sagen.
Das wird ja im Laufe eines langen Winters zur Genüge geschehen.
Heute sei nur noch etwas Allgemeines gesagt über das, was das Theaterreferat einer kleinen Bühne kann und soll und was es nicht kann und nicht soll. Es soll nicht versprechen, »gerecht« zu sein.


Über Erhard Coch

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Erhard Coch ist Autor verschiedener Bücher und Essays.