Jean Pauls optische Metaphorik der Unsterblichkeit

Wohl kaum ein Autor hat mehr blinde Protagonisten, Starstecher und Augenoperateure in seinem Werk aufzuweisen als Jean Paul. Vom ersten Roman Die unsichtbare Loge (1793) bis hin zur späten Unsterblichkeitsschrift Selina (postum: 1827) kann man ihre Spur verfolgen.
Eine solche Fülle an Varianten optischer Defizite, die der Erzähler mit obsessiver Konkretion ins Bild setzt, wurde in der Forschung zwar vielfach beiläufig vermerkt, jedoch bisher weder in motivisch noch in metaphorologisch orientierten Studien zum Gegenstand der Untersuchungen gemacht.

Augen-Spiel
Jean Pauls optische Metaphorik der Unsterblichkeit
Sabine Eickenrodt
Wallstein Verlag

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Selbst dort wurden sie nicht weiter zu bedenken gegeben, wo der Versuch im Vordergrund stand, den Augen-Menschen Goethe gegen den ›musikalischen‹ Jean Paul2 auszuspielen. So unvergleichbar diese Blinden auch scheinen mögen, die sich thematisch aus der religiös-pietistischen Tradition ebenso rekrutieren wie aus der medizinischen des Starstechens oder der magnetistischen des Mesmerismus: Ihnen gemeinsam ist eine unverwandte Ausrichtung aller Sinne auf die ›andere Welt‹, die Blindheit nicht als Defizit, sondern als besondere Qualifikation fürs Jenseits erscheinen läßt. Ihre ›Auftritte‹ haben sie nicht selten in Sterbeszenen. In diesen wird mit großem dramaturgischen Aufwand ein Tableau der anderen Welt entworfen, ohne daß der Erzähler diese doch ›malerisch‹ in Erscheinung treten ließe. Gleichwohl ist das Thema der Blindheit bei Jean Paul aufs engste an den Topos der anderen, der ›zweiten‹ Welt gebunden und kann von den zeitgenössischen insbesondere noch in der Tradition der Physikotheologie stehenden Entwürfen nicht getrennt werden: Diese machten das menschliche Auge und dessen Sehkraft zum Garanten einer uneingeschränkten Wahrnehmung jenseits des Todes.
Ein Vorhaben, das die Thematisierung von Blindheit in den Schriften Jean Pauls an die Frage der poetischen Darstellbarkeit von der anderen Welt binden will, hat sich in mehr als einer Hinsicht seines interpretatorischen Standorts zu vergewissern: Margarete Susman, die bereits 1925 in den Schriften Jean Pauls »eigentlich nur eine Periode, einen philosophisch-dichterischen Dithyrambus«3 sehen wollte, weist zu Recht auf des Autors dilemmatische Auseinandersetzung mit dem Unsterblichkeitsthema hin, wenn sie deutlich macht, daß er den Glauben an die individuelle Fortdauer der Seele nicht aufzugeben bereit war und das (im 18. Jahrhundert ausgiebig diskutierte) Wiedersehen bzw. Wiedererkennen nach dem Tode als ein Postulat beizubehalten vermochte, obwohl er zugleich die »Gestalt der Persönlichkeit um ihrer noch tieferen Erhaltung willen« preisgegeben und jegliche »Phantasie über das Optische des Todes« vehement bekämpft habe.


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Erhard Coch ist Autor verschiedener Bücher und Essays.