Erika Pluhar - Erinnerungen an eine Jugend

Am Ende des Gartens gab es einen Graben, der ziemlich tief war und grasbewachsen. Dahinter begannen bereits Felder und Baumgruppen, Landschaft. Zaun gab es keinen, der Graben schien als Abgrenzung auszureichen. Oder sie kann sich an keinen Zaun erinnern.
Woran sie sich aber deutlich erinnert, und was sie beharrlich als die erste klare Erinnerung ihres Lebens bezeichnet, ist eben dieser Graben. Das scharfe, glänzende Gras darin, jeder Halm ein deutlich abgezeichneter, kräftiger Schaft, hellgrün, nur in der Tiefe des Grabens ein wenig dunkler. Und dort unten hatten sie eines Tages den Stahlhelm gefunden. Wer ihn entdeckt hat, weiß sie nicht mehr genau, sie selbst? Oder Dudusch? Aber wie die Metallkuppe plötzlich vor ihnen aus dem Gras geragt hatte, wie anfänglich nur diese Rundung den Blick auf sich zog und man noch nicht wissen konnte, was es war. Das weiß sie. Das liegt als erfahrenes Bild in ihrem Bewußtsein. Das erste Bild, an das sie sich erinnert.

Am Ende des Gartens
Erinnerungen an eine Jugend
Erika Pluhar
Verlag: Edel:eBooks

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Die Äste eines Apfelbaumes, weiße Kleider aus Organdy – davon gibt es ein Foto, kein erinnertes, sondern ein festgehaltenes Bild. Sie und Dudusch, weiß gekleidet. Jedenfalls sieht es auf dem alten Schwarzweißfoto so aus. Ihre Mutter erzählt, das Kleid sei hellblau gewesen. Wie das der um fünf Jahre älteren Schwester, beide wurden sie in denselben hellblauen Organdy gehüllt, es waren die berühmten Organdykleider, ein geflügeltes Wort innerhalb der Familie. Hoch oben in den Ästen eines Baumes stehen sie und lächeln manierlich herunter. Daß der Baum ein Apfelbaum war, ist wahrscheinlich Erfindung, es klingt lyrischer.
Zwei kleine Mädchen auf einem Baum. Auf manchen Fotos dazu der kleine Junge. Aber es gibt auch eines, wo nur sie mit Dudusch in den Ästen steht. Er mit seinem dunklen, auf der Stirne schnurgerade geschnittenen Haar. Sie muß das Foto hervorsuchen. Er war der erste Freund ihres Lebens, das steht fest, der erste Mensch, mit dem sie sich innig und unerschütterlich verbunden fühlte. Den sie mehr geliebt hat als Vater und Mutter.
Und gemeinsam haben sie und Dudusch an diesem Tag, dem ersten, der in ihrem Bewußtsein erhalten zu sein scheint, einen Stahlhelm gefunden und aus dem Gras gezogen. Sie liefen mit ihm zum Haus zurück und schrien aufgeregt. Wer immer sie zuerst damit entdeckte, auf jeden Fall wurde er ihnen schnell entrissen. Man schien keine Freude an diesem Anblick gehabt zu haben, kleine, pausbackige Kinder, etwas mehr als drei Jahre alt, einen riesigen, verdreckten Stahlhelm schleppend wie eine seltene Trophäe. Zu einer Zeit, wo allerorten Männer mit Stahlhelmen herumliefen. Man fragte sich wohl auch besorgt, wie der Stahlhelm in diesen friedlichen hausnahen Graben gelangt war.

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