Überblick über die Geschichte des Kinderheims vom Mittelalter bis zur Gegenwart

Ein Kind hat einen Vater und eine Mutter. Es wohnt mit ihnen am selben Ort, im selben Haus. Betreut von seinen Eltern, wächst das Kind in seiner Familie auf. Wenn es das Jugendalter erreicht hat – also je nach Ausbildung, familiären und finanziellen Verhältnissen im Alter zwischen 18 und 25 Jahren –, zieht es aus, lebt mit anderen in einer Wohngemeinschaft oder mit dem Freund oder der Freundin zusammen, um eines Tages einen eigenen Hausstand zu gründen und selber Kinder grosszuziehen.

Heimkinder
Eine Geschichte des Aufwachsens in der Anstalt
Urs Hafner

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Ungefähr so stellen wir uns das Aufwachsen und Erwachsenwerden eines Kindes und Jugendlichen vor. Doch damit projizieren wir unsere Normalitätsvorstellungen auf die Gegenwart kindlicher und jugendlicher Lebenswelten. Die Realität ist eine andere: Aufgrund vielfältiger Patchwork-Familienkonstellationen und hoher Scheidungsraten wachsen heute viele Kinder nicht mehr nur zusammen mit den biologischen Eltern, sondern mit sozialen Elternteilen – also den neuen Partnerinnen und Partnern der leiblichen Eltern – sowie an mehreren Orten auf – dort, wo die Betreuungspersonen leben. Kinder aus schwierigen familiären Verhältnissen, welche das Aufwachsen massiv beeinträchtigen können, verbringen zudem längere Phasen der Adoleszenz oft ausserhalb ihrer Herkunftsfamilie, sei es in Pflegefamilien oder stationären Institutionen wie etwa in Jugendheimen.
Die sozial breit akzeptierte Wunschvorstellung, dass das Grosswerden im emotional dichten Rahmen der Herkunftsfamilie der Normalfall sei, wird wahrscheinlich umso stärker, je weniger sie mit der Realität übereinstimmt. Je weniger diese dem entspricht, was wir als gut betrachten, je mehr diese also unsere moralischen Vorstellungen und unser Selbstbild kränkt, desto eher malen wir uns ein geschöntes Bild. Was gut und normal sei, denken wir, sei schon immer so gewesen und sei überall so. Wie Ethnologen berichten, war es auf den westpazifischen Karolinen-Inseln noch im 20. Jahrhundert gang und gäbe, dass Eltern ihre Kinder dauerhaft in fremde Hände gaben – nicht weil sie ihrer überdrüssig geworden oder mit ihnen überfordert gewesen wären, sondern weil diese Sitte dem Gedeihen des Nachwuchses als förderlich galt. Die Gesellschaft versprach sich vom Kindertausch zwischen verschiedenen Familien eine verstärkte soziale Integration, Kohäsion und Reziprozität.1 Noch weniger trifft die Unterstellung, dass alle Kinder ganz natürlicherweise und am besten bei ihren leiblichen Eltern aufwachsen, auf die Vergangenheit zu. Das 19. Jahrhundert etwa, das – zumindest aus historischer Perspektive – noch nicht lange Geschichte ist, gilt als das «Jahrhundert der Anstalten»: Tausende von Kindern vor allem aus den Unterschichten wuchsen in den von bürgerlichen Kreisen neu gegründeten Rettungshäusern und Erziehungsanstalten auf. Noch früher beherbergten Spitäler, Waisen- und Arbeitshäuser elternlose, verstossene oder von zu Hause ausgerissene Kinder und Jugendliche.

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