Das Hungertuch, druckfrisch

Das Hungertuch

Die Deutsche Kritik neigt dazu, klüger als die Kunst sein zu wollen. Sozusagen die Kunst und noch etwas mehr. Dabei ist sie natürlich immer weniger, sie reduziert das Vieldeutige, kappt den semantischen Überhang, indem sie es auf einen Nenner bringt. Auch wenn sich die Kritik selbst künstlerisch gibt, praktiziert sie Reduktion, sie schließt aus. Die Überheblichkeitsgeste der Kritik ist ihre Kompensation dieses Umstands. Sie weiß das naturgemäß selbst, und sie ärgert sich grün vor Neid. Deshalb auch oft dieser Furor sowohl des Verrisses wie des Lobs. „Ist doch nur Kunst!“, könnte man dagegenhalten, tut doch keinem weh. Aber in beiden Fällen sind es Machtdemonstration, die umso forcierter ausfallen, je deutlicher der Kritiker dem Künstler zu verstehen geben will, daß er den längeren Füller hat. Insofern steckt noch in der größten Laudatio ein Kern Verachtung.

Dies zu ändern ist im Jahr 2001 der Kunstförderer Ulrich Peters angetreten und hat mit dem „Hungertuch“ einen Künstlerpreis gestiftet, der in den zehn Jahren seinen Bestehens von Künstlern an Künstler verliehen wurde. Es gibt im Leben unterschiedliche Formen von Erfolg. Zum einen gibt es die Auszeichnung durch Preise und Stipendien, zum anderen die Anerkennung durch die Kolleginnen und Kollegen. Dies manifestiert sich in diesem Künstlerpreis mit spielerischer Leichtigkeit.

Die Kunst steckt in der Krise. Das überraschende Début, die markante Debatte, der schockierend gute Roman – das alles fehlt. Die Kritik entwarf sich selbst als Hegemonialmacht mit universaler Deutungskompetenz; allüberall, in einer Grußformel, einem Reklameslogan, einem Hollywoodfilm vermochte sie das falsche Bewußtsein, wie diese Gesellschaft es notwendig erzeugt, aufzustöbern und in ein richtiges, das heißt kritisches Bewußtsein zu verwandeln. Dort, wo die Theorie dingfest gemacht werden soll, gibt es einen Irrgarten aus Wörtern, den man – systematisch denken! Assoziation! – nicht chronologisch durchwandert, sondern durchstreift, von Stichwort zu Stichwort. Glauben heißt nicht ausgeliefert, sondern ergriffen sein. Wenn man bemerkt, daß alles schon einmal da war, relativiert sich die Ernüchterung. Wenn man sich dann, in einem zweiten Schritt, auf die Primärtugenden der Kritik besinnt – Neugier, Leidenschaft, Entdeckerfreude, Sachverstand und die Fähigkeit, diesen Sachverstand zu vermitteln –, dann ist schon viel gewonnen. Gesellt sich dazu noch eine methodische Vielfalt, kann es losgehen. Denn welche Werkzeuge man anwendet – ob man sich dem close reading verschreibt oder gesellschaftliche Fragen zu beantworten sucht, ob man sich bei der feministischen Literaturwissenschaft oder bei den queer studies bedient, sich psychoanalytisch inspirieren läßt oder sein Reservoir subkulturellen Wissens ausschöpft –, ist nicht kategorisch, sondern von Fall zu Fall zu entscheiden. Löst man sich dann noch vom Themendiktat der aktuellen Bestseller, kann es aufregend werden. Für mich ist das Aufregende am ehesten im Netz zu finden, dort, wo ich mich mit Künstlern wie Barbara Ester, Tom Täger, Peter Meilchen, Tom Liwa, Haimo Hieronymus, Manuel Quero, Almuth Hickl, Holger Benkel, Katja Butt, Pia Lund, A.J. Weigoni, Thomas Suder, Peter Engstler, Woon–Jung Chei, Denise Steger, Joachim Paul und Eva Kurowski beschäftige. Nicht im Sinne eines Geheimwissens, das mich gegenüber anderen, nicht eingeweihten Kritikern auszeichnete, sondern weil die Literatur für mich ein privilegierter Ort der Fremderfahrung ist. Lesen und Unvertrautes zu erfahren, gehört für mich untrennbar zusammen. In Büchern, vervielfältigen sich die Genüsse und Erkenntnismöglichkeiten. Mag die Verwandtschaft von Literatur und Reisen ein wenig überstrapaziert sein, mag man sich, sobald man sie anführt, in den zu großen Fußspuren Jahnns zu bewegen, wirksam und aufschlußreich ist diese Analogie dennoch, insofern beides, die Literatur wie die Reise, Unvorhergesehenes mit sich bringt, insofern beides überfordert, die Sinne anregt und anstrengt, vielleicht überanstrengt, aber zugleich Neugier entfacht, das Denken und die Wahrnehmung herausfordert. Der Schriftsteller von heute ist Kleinunternehmer, die erfolgreicheren können sich schon als Mittelständler fühlen. Und so verhalten sie sich auch. Sie haben sich von Politik und Gesellschaft abgewandt. Nichts wagen, nicht anecken, immer schön dem Zeitgeist nacheifern, die Gunst des Publikums bedienen, egal wie regressiv, wie reaktionär. Prämiert wird, was wohlfeil ankommt. Das alles hat fatale Konsequenzen für die gesellschaftliche Entwicklung und den kritischen Diskurs, ohne den eine demokratische Gesellschaft nicht auskommt. Intellektuelle Debatten werden inzwischen von so genannten Experten dominiert, am liebsten im Fernsehformat. Sie erreichen meistens nur mittleres Talkshowniveau. Die intellektuelle Auseinandersetzung beginnt jedoch dort, wo der Zweifel beginnt - die dubitative bzw. kausale Frage. Anläßlich der Feierlichkeiten zu Walter Benjamins 100. Geburtstag unterschied Jürgen Habermas 1972 in einem berühmten Vortrag zwischen "bewußt machender" und "rettender Kritik", was viel Aufsehen erregte, aber keine Folgen hatte. Auf Französisch bedeutet „vision“ sinnliche visuelle Wahrnehmung wie auch innerliche oder transzendentale Bilderfahrung.

Matthias Hagedorn

Die Dokumentation zum Künstlerpreis erscheint mit einem Originaldruck von Haimo Hieronymus bei der Edition Das Labor, Mülheim 2011

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