Ein Blick hinter die Kulissen christlicher Sondergemeinschaften: Zeugen Jehovas und Neuapostolische Kirche (II)

Sekten sind keine Denkfabriken. Sonst wären sie von Schließungen bedroht. Sind sie aber nicht. Nicht einmal die Zeugen Jehovas, die Jahr für Jahr Zehntausende aus ihrer Glaubensgemeinschaft feuern, weil es angeblich für die anderen am besten ist, wenn man ehemalige Mitglieder nicht einmal mehr grüßt. Das anordnen darf man: Dafür gibt es in Deutschland die Religionsfreiheit, die zu den Menschenrechten gehört und sogar dazu dienen darf, Menschenrechte mit Füßen zu treten. Schließlich wollen sie ins Paradies, in den Himmel kommen - da schaut man nicht nach hinten, nicht nach links oder rechts, sondern nach vorn und hofft auf Gottes Segen, der sich so äußert: in steigenden Mitgliederzahlen als Zeichen des göttlichen Wohlwollens, in sinkenden Mitgliederzahlen als Zeichen der Verfolgung, der nicht jeder standhält. Ein Bibelzitat findet sich immer.

Auch in Sekten gibt es Neid. Trennt sich jemand von ihnen und es geht ihm gut, heißt es: Das dicke Ende kommt noch. Geht es ihm schlecht, heißt es: Das musste ja so kommen. Es ist kein Heil - außer bei uns, bei den Zeugen Jehovas am Kanal Gottes, in der Neuapostolischen Kirche bei den Aposteln, die es auch bei den Mormonen gibt, doch wer weiß das schon so genau? Letztere haben zumindest Humor.

Als ich mit den Recherchen für mein erstes Buch über Sekten begonnen habe, rief ich die deutsche Zentrale dieser Glaubensgemeinschaft in Frankfurt an. Die wünschte mir viel Erfolg mit meinem Buch, mehr wollte sie aber nicht tun. Begründung: „Was wir lehren, können Sie nicht begreifen. Sie haben den Heiligen Geist nicht.“

Das ist möglicherweise ein Manko, aber hätte ich erst einmal überall Mitglied werden sollen, um über jede dieser Glaubensgemeinschaften schreiben zu können, die eins ganz sicher wissen: Die Welt geht unter - wahrscheinlich morgen schon. Das Ende ist seit 2000 Jahren immer sehr nahe gewesen.

Die Mormonen haben also Humor, die Zeugen Jehovas immer Angst. Als ich mich mit dem damaligen deutschen Vizechef Richard E. Kelsey vor dem Bahnhof in Wiesbaden traf, war seine erste Frage: „Wollen Sie Glaubensgemeinschaften zermahlen?“ Ich hätte nie gedacht, dass ich das könnte. Das kann niemand. Denn sonst gäbe es sie nicht mehr. Sie hätten sich längst selbst zermahlen.

Doch mit dem Glauben in Sekten ist das eine eigene Sache - er ist unerschütterlich, so lange man in der Lage ist, alle paar Jahre etwas anderes zu glauben. Das ist mir später bei Vorträgen bewusst geworden. Da standen Sektenmitglieder auf und behaupteten, alles was ich erzählt hätte, seien Lügen. Um das zu beweisen, hat die Neuapostolische Kirche eine Zeitlang sogar einen Anwalt nach dem anderen eingeschaltet.

Doch mein erstes Buch war 1989 auf dem Markt. Was also tun? Jemand, der damals noch neuapostolisch war, berichtete mir, in seinem Beisein sei Haarsträubendes über meine Veröffentlichung behauptet worden. Deshalb habe er mein Buch erst gelesen, als er ausgetreten war. Dabei stellte er fest: Derlei stand nun wirklich nicht drin.

Da Sekten keine Denkfabriken sind, denkt sich auch kaum jemand: Ich lese mal, was über uns so geschrieben wird. Lesen Sektenmitglieder es doch, ist das Urteil schnell gefällt: Alles nicht wahr.

Dann klingelt immer wieder mein Telefon. Leute beschweren sich darüber, dass sie mein Buch „Gift gegessen - Aussteiger aus Endzeitkirchen berichten“ zwar bestellt, aber nie bekommen haben.

“Was ist das denn für ein Verlag?“ fragen sie.

Doch mein Verleger aus Worms versichert mir, dass er bestellte Bücher auch abgeschickt habe. Aber: Rund 200 scheinen nie angekommen zu sein. Darüber berichtet auch die „Neue Presse“ aus Hannover, später eine Zeitschrift für Journalisten.

Auf die Veröffentlichung in der Journalisten-Zeitschrift reagiert ein Funktionär der Neuapostolischen Kirche mit einem Leserbrief und weist darauf hin, dass er schon lange Gewerkschaftsmitglied sei. Alles andere stimme nicht.

Manches jedoch kommt beim Empfänger an. Ein Leser aus Südniedersachsen macht aus meiner Veröffentlichung Papierschnipsel, steckt sie in einen Briefumschlag und fügt die Bitte bei, ich solle meinen Müll doch selbst entsorgen.

Nun reicht es mir. Ich wende mich an den internationalen Chef der Neuapostolischen Kirche (NAK). Der überlässt die Antwort einer Anwaltskanzlei aus Zürich. Die schreibt mir, dass Richard Fehr, so heißt Anfang der 1990er-Jahre der NAK-Chef, nicht wisse, was ich von ihm wolle. Schadenersatz werde er jedenfalls nicht leisten.

Immerhin: Nach den Presseveröffentlichungen über den merkwürdigen Bücherschwund kommt „Gift gegessen“ bei den Bestellerinnen und Bestellern an.

Ich schreibe derweil einen Fortsetzungsband, an dem sich ein Ex-NAK-Mitglied aus Herne beteiligt. Es bekommt den Titel „An ihren Früchten“. Es bleibt das einzige Buch, gegen das sich die Neuapostolische Kirche nicht mit Strafanträgen wendet.

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Über Heinz-Peter Tjaden