Klaus Schroeder: Die veränderte Republik. Deutschland nach der Wiedervereinigung

Die Mauer fiel, die Einheit kam – unverhofft und schnell, herbeigesehnt oder befürchtet. In den turbulenten Monaten im Spätherbst des Jahres 1989 beschleunigte die Weltgeschichte ihren Lauf: Gleichsam über Nacht stürzte zusammen, was seit 1945 Bestand hatte. Das Freiheitsstreben der aus dem sowjetischen Imperium drängenden ost- und mitteleuropäischen Länder brachte auch den Deutschen die Einheit in Freiheit.

Doch recht bald folgte auf die Euphorie der Katzenkammer. Auch sechzehn Jahre nach der Vereinigung will, was zusammengehören soll, nicht so recht zusammenwachsen. Das Unbehagen an der Einheit ist gleichermaßen unter Ost- und Westdeutschen vorhanden, wenngleich aus unterschiedlichen Motiven. Viele Ostdeutsche halten das durch gewaltige Finanztransfers aus dem Westen in ihren Landstrichen und Haushalten Geschaffene für selbstverständlich und sehen weitergehende Ansprüche als nicht erfüllt an. Unter Westdeutschen entwickelten sich angesichts der anhaltend hohen Vereinigungskosten, die für sie nachhaltige Wohlstandseinbußen bedeuten, ebenfalls Zweifel an der Einheit und vor allem an dem von der Politik eingeschlagenen Vereinigungspfad.

Die hier vorliegende, auf Ergebnissen zahlreicher Forschungsprojekte zur deutschen Teilungsgeschichte und zum Vereinigungsprozess basierende Studie beleuchtet die Entwicklung nach der Wiedervereinigung vor dem Hintergrund der Ausgangssituation und der subjektiven Erwartungen und Befindlichkeiten.

Die Schwierigkeiten des Vereinigungsprozesses und das Unbehagen an der Einheit können nicht angemessen erklärt werden, wenn die jahrzehntelange Teilung und das Leben in diametral entgegen gesetzten Gesellschaftssystemen nicht berücksichtigt werden. Im Oktober 1990 standen sich zwei deutsche Teilgesellschaften gegenüber, die sich vor allem in Sozialstruktur und Alltagskultur stark unterschieden. Die alte Bundesrepublik war sozial und kulturell eine mittelschichtsdominierte, die DDR eine verproletarisierte Gesellschaft. Eine hochgradig individualisierte und pluralisierte, substanziell in den Westen integrierte Gesellschaft stieß auf ein institutionell sowjetisiertes, im mentalen Kern aber dennoch eher typisch deutsches Gemeinwesen in einem sehr herkömmlichen, eher altmodischen Sinn. Trotz der nie abreißenden innerdeutschen Kontakte waren sich die Menschen nach 45 Jahren Teilung doch fremder geworden als angenommen.

Die Vereinigung konnte nicht auf Augenhöhe erfolgen, da der reale Sozialismus sich im Wettbewerb der Systeme als unterlegen erwiesen hatte und zusammengebrochen war. Eine breite Mehrheit der Ostdeutschen wollte so leben wie im Westen, nahezu alle Westdeutschen wollten so weiterleben wie bisher. Dabei geriet aus dem Blick, dass schon die alte Bundesrepublik in vielerlei Beziehung reformbedürftig war. Sechzehn Jahre später wird deutlich, dass der Verzicht auf eine umfassende Modernisierung, mit dem viele Probleme verschleppt und vertieft wurden, als erster Kardinalfehler angesehen werden kann.

Auch der eingeschlagene Finanzierungsweg der Einheit stellte sich recht bald als falsch heraus. Zur Verschleierung des gewaltigen Transferbedarfs erfolgte die Finanzierung der Einheit zu großen Teilen über die Sozialversicherungen. Dies belastete gleichermaßen die Einkommen der westdeutschen Arbeitnehmer und durch Erhöhung der Arbeitskosten die Konkurrenzfähigkeit von Unternehmen. Darüber hinaus wurden bestimmte Bevölkerungsgruppen wie Beamte, Selbstständige und Rentner, die keine Sozialbeiträge zahlen müssen, bevorteilt. Hinzu kam eine immense Erhöhung der Verschuldung insbesondere des Bundes. Die Vereinigungskosten belaufen sich nach Schätzungen des Autors von 1990 bis Ende 2006 auf brutto über 1,7 Billionen Euro und netto auf etwa 1,4 Billionen Euro. Dies entspricht jährlich mehr als 4% des Bruttosozialprodukts. Neben den Kosten der Einheit belasten jedoch zusätzliche Aspekte das Zusammenleben in Deutschland. Weiterhin existieren unterschiedliche Geschichtsbilder und Verständnisse von Politik und Gesellschaft bei Mehrheiten in Ost und West. Die Nachwirkungen unterschiedlicher Sozialisation vermengen sich mit den Erfahrungen im Vereinigungsprozess, so dass sich alte Vorurteile reproduzieren und nostalgische Stimmungen auftreten. In der Beurteilung der neuen politischen und gesellschaftlichen Ordnung stimmt die ostdeutsche Bevölkerung eher mit der anderer ost-mitteleuropäischer Länder überein als mit der westdeutschen. Im Kern ist die ostdeutsche Gesellschaft auch sechzehn Jahre nach der Vereinigung immer noch vor allem eine postsozialistische.

Am Beispiel des Rechtsextremismus, der sich in Ost und West anders darstellt, wird ebenfalls deutlich, wie alte Milieus und Sichtweisen nachwirken und aktuelle Entwicklungen mitbestimmen. Dabei wird häufig übersehen, dass der Rechtsextremismus trotz unterschiedlicher Gesellschaftssysteme gleichermaßen ein Problem der DDR und der alten Bundesrepublik war. Seit der Jahrtausendwende verstetigt sich ein Trend, der sich ab Mitte der neunziger Jahre schon angedeutet hatte. Die Veränderungen betreffen nicht nur die neuen Länder und ihre Bevölkerung, sondern ebenso den alten Westen, wenn auch nicht in gleichem Maße und weniger deutlich sichtbar. Gleichzeitig hat sich die Richtung, in die Annäherung und Anpassung gehen, in einigen Bereichen umgekehrt; hier folgt – trotz fortbestehender Differenzen – der Westen jetzt dem Osten. Weniger die Vereinigung selbst als die nachfolgenden sechzehn Jahre unter gewandelten weltpolitischen Bedingungen haben diese Veränderungen bewirkt.

Die Vereinigungsbilanz fällt nach sechzehn Jahren in der Gesamtschau weiterhin widersprüchlich aus: Wir leben nun in einem gemeinsamen Staat, der für alle gleiche Rechte garantiert, aber auch Pflichten einfordert; gleichzeitig verfügt der größte Teil der Bevölkerung in Ost und West inzwischen über annähernd gleiche materielle Ressourcen. Bei Einkommen und Vermögen hat sich für die breite Mehrheit der Bevölkerung ein öffentlich kaum wahrgenommener Angleichungsprozess vollzogen. So liegen die tatsächlich ausgezahlten Renten im Osten deutlich höher als im Westen und sogar das durchschnittliche Vermögen pro ostdeutschem Haushalt hat unter Berücksichtigung der kapitalisierten Ansprüche an die gesetzliche Rentenversicherung inzwischen etwa 80% des westdeutschen Niveaus erreicht. Die durchschnittlichen Geldvermögen stiegen anteilig von 18,7% (1990) auf knapp 52% (2003).

Der Unterschied zwischen Ost und West betrifft nur kleine Teile der Bevölkerung, d.h. die „oberen Zehntausend“ konzentrieren sich weiterhin auf Westdeutschland, was angesichts der Vorgeschichte nicht überraschen kann. So gesehen ist die „innere Einheit“ materiell inzwischen erreicht, aber andererseits sind sich die Deutschen in Ost und West immer noch weitgehend fremd geblieben und es fehlt an der Akzeptanz unterschiedlicher Lebensläufe und Einstellungen. In ihrem Selbstverständnis, ihrer sozialen Struktur und den Mentalitäten von großen Teilen der Bevölkerung unterscheiden sich die beiden Teilgesellschaften nach wie vor deutlich. Die generelle Differenz zwischen Ost und West überlagert derzeit noch die jeweiligen Binnendifferenzierungen.

Die ausführliche und detaillierte Auseinandersetzung mit den Positionen von Vereinigungskritikern zeigt, dass sie sich zwar mehrheitlich in der Diagnose einig sind, jedoch grundverschiedene Therapien empfehlen. Liberale Vereinigungskritiker, vor allem Ökonomen, bemängeln die ausgebliebenen Reformen und beklagen ein Zuviel an Staat und Bürokratie. Darüber hinaus sehen sie die geldpolitischen Rahmenbedingungen und die schnellen Lohnerhöhungen als ursächlich für viele wirtschaftliche Probleme Ostdeutschlands an. Sie fordern eine umfassende Modernisierung im Sinne von weniger Regulierung und mehr wirtschaftlicher und politischer Freiheit. Anders argumentieren dagegen linke, vornehmlich ostdeutsche Vereinigungskritiker. Sie betrachten den eingeschlagenen Vereinigungsweg als neoliberale Kolonialisierungsstrategie und sehen Reformbedarf in Richtung auf mehr Staat und mehr Umverteilung. Während die einen also schon die alte Bundesrepublik für sozialstaatlich gefesselt halten, wollen die anderen ausgehend von den Erfahrungen der DDR wieder in Richtung eines (reformierten) Sozialismus gehen.

Vor allem ältere ehemalige SED-Wissenschaftler und –Ideologen üben eine gleichsam erbitterte Vereinigungskritik, da sie über das mit einem individuellen Verlust an Status und Ansehen verbundene Ende ihrer DDR nicht hinwegkommen. Für sie ist die Kritik am vereinten Deutschland ein Stück Lebensbewältigung, allerdings mit einem schädlichen Einfluss auf die öffentliche Debatte in Ostdeutschland. Alte Vorurteile werden gegen die Bundesrepublik und den Westen schlechthin weiterhin transportiert und jüngeren Ostdeutschen ein nostalgisch eingefärbtes Bild von der DDR vermittelt. Bei ihnen wie bei nennenswerten Teilen der ostdeutschen Bevölkerung geht eine grundsätzliche Kritik an der Vereinigung und der politischen und gesellschaftlichen Ordnung Deutschlands mit einer Aufwertung und Verharmlosung der SED-Diktatur einher.

Als besonderes Problem erweist sich der in Ost und West unterschiedliche Umgang mit der doppelten Diktaturerfahrung. Während Westdeutsche die beiden Diktaturen, ohne sie auf eine Stufe zu setzen, aus der Perspektive einer freiheitlich-demokratischen, zivilen Gesellschaft und ihrer Werteordnung beurteilen, greift eine Mehrheit der ostdeutschen Bevölkerung bei der Bewertung des NS-Staates oftmals auf alte, in der DDR übliche Muster zurück und lehnt schon einen Vergleich zwischen der SED- und der NS-Diktatur ab. Die Redewendung von der DDR als „zweiter deutsche Diktatur“ erzeugt bei vielen Ostdeutschen einigen Widerwillen. Die Differenz in der Einordnung der beiden deutschen Diktaturen im letzten Jahrhundert resultierte aus unterschiedlichen Geschichtsbildern und konträren normativen Bezügen.

Auch wenn die Zustimmung der Ostdeutschen zur parlamentarischen Demokratie wie zur neuen Gesellschaftsordnung bisher nur schwach ausgeprägt ist, will doch nur eine kleine Minderheit zurück in die (reale) DDR. Viele ehemalige DDR-Bewohner sind eher verunsichert, fühlen sich fremdbestimmt, haben noch keine Identität gewonnen und/oder flüchten in eine „Ost-Identität“, die in erster Linie eine Abgrenzung gegenüber dem Westen bedeutet. Gerade hierin liegt aber die Gefahr, dass aus dieser Verunsicherung politische Rattenfänger Kapital schlagen können. Die Probleme der Deutschen mit sich selber sind aber auch Resultat eines – aufgrund der unheilvollen gemeinsamen Vorgeschichte – im internationalen Vergleich unterentwickelten Nationalgefühls. Dies erschwerte die Herausbildung einer gemeinsamen Identität. So stellen sich für uns Deutsche weiterhin die Fragen: Wer sind wir? Was wollen wir?

Jenseits der Banalität, dass Deutschland größer und international einflussreicher geworden ist, werden die Veränderungen vor allem auf nachfolgenden Feldern sichtbar:
1.Die Zusammensetzung der Bevölkerung hat sich seit 1989/90 nicht nur durch die Vereinigung, sondern auch – was häufig übersehen wird – durch millionenfache Zuwanderung von Ausländern und Deutschstämmigen geradezu dramatisch gewandelt. Mehr als jeder dritte derzeit in Deutschland Lebende wurde in einem anderen gesellschaftlichen und politischen System sozialisiert und traf auf eine Mehrheitsgesellschaft, die sich ihm gegenüber verschloss, indem sie auf eine aktive Integrationspolitik verzichtete.
2.Der in Westdeutschland seit den sechziger Jahren vorhandene breite Konsens über die politische und gesellschaftliche Ordnung ist seit der Vereinigung im Westen geschrumpft und im Osten mehrheitlich weiter nicht vorhanden. An den sozialen und politischen Rändern der Gesellschaft erleben radikale politische und religiöse Strömungen einen Aufschwung, der die gesellschaftliche Ordnung langfristig bedrohen könnte. Die Zivilgesellschaft gerät mancherorts in die Defensive.
3.Deutschland hat zwar den „langen Weg nach Westen“ mit der Vereinigung abgeschlossen, es jedoch nicht vermocht, den neu hinzugekommenen Staatsbürgern die Werte einer liberalen westlichen Gesellschaft überzeugend zu vermitteln. Eine Mehrheit der politischen Klasse und der Funktionseliten hat es versäumt, das Selbstverständnis der deutschen Republik offensiv zu vertreten.
4.Die Zeit der Wohlstandszuwächse ist für eine Mehrheit der Westdeutschen mit der Vereinigung und für die meisten Ostdeutschen nach der Wohlstandsexplosion bis Mitte der neunziger Jahre vorbei. Auf absehbare Zeit wird es in Deutschland nichts Zusätzliches mehr zu verteilen geben, sondern vor allem um die Verteilung der Ressourcen gestritten werden.
5.Durch die hohen Ansprüche der Ostdeutschen und ihre erfolgreiche Interessenpolitik, eine überzogene Lohnpolitik und die Fehler vor allem bei der Finanzierung der Einheit summieren sich die Vereinigungskosten auf einen kaum vorstellbaren Betrag, der auf unabsehbare Zeit jährlich um etwa 100 Mrd. Euro steigen wird. Neben der Finanzierung durch höhere Steuern und Sozialbeiträge finanzieren alle Regierungen seit 1990 die Vereinigung zu einem großen Teil durch weitere Verschuldung. Die Staatsverschuldung wurde in schwindelerregende Höhen getrieben, was nachfolgenden Generationen eine schwere Last aufbürdet. Der leichtfertige Umgang mit den öffentlichen Finanzen führte dazu, dass viele ostdeutsche Kommunen und Länder trotz der massiven West-Ost-Transfers inzwischen sogar höher verschuldet sind als ihre Pendants im Westen.
6.Als Erbe der DDR hat sich die Nachfolgepartei der SED, die Linkspartei/PDS, inzwischen fest im deutschen Parteiensystem etabliert. Der hierdurch erfolgte Wechsel vom Vier- zum Fünf-Parteien-System hat – wie die Bundestagswahl 2005 offenbarte – das politische System verändert. Zukünftig werden wahrscheinlich jenseits von Koalitionen zwischen Union und SPD nur noch Drei-Parteien-Koalitionen möglich sein. Abgesehen von FDP und CDU sind im Wahlkampf 2005 alle Parteien nach „links“ gerückt.
7.Die im November 2005 gebildete Große Koalition hat die bereits in der alten Bundesrepublik vorhandene und durch die Vereinigung verstärkte Reformblockade bisher nicht aufheben können. Die Verwaltung des Status quo birgt die Gefahr in sich, dass der notwendige Reform- und Modernisierungsprozess des Sozialstaates weiter verschleppt wird, was wiederum die ohnehin weit verbreitete Unzufriedenheit der Bevölkerung mit dem politischen System verstärkt. Die sinkende Akzeptanz des politischen und gesellschaftlichen, vor allem des wirtschaftlichen Systems, aber auch die überraschende Renaissance der Staatsgläubigkeit, sind erste Anzeichen hierfür.
8.Der Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums und das Ende des Kalten Krieges führten zur Erweiterung des Weltmarktes und zur Beschleunigung der Globalisierung. Dadurch hat sich der Wettbewerbsdruck auch für Deutschland erhöht. Während große Konzerne durch ihre Internationalisierung und ihren hohen Exportanteil an Stärke gewinnen konnten, haben sich die Bedingungen für kleine und mittlere Unternehmen nicht nur in den neuen Ländern vor allem aufgrund der Konkurrenz aus Ost- und Mitteleuropa verschlechtert.
9.Nach den Anschlägen des 11. September 2001 entwickelten sich die USA und die meisten europäischen Länder in vielerlei Hinsicht auseinander. Vor allem in Deutschland hat sich eine latent bei Linksintellektuellen und im Bildungsbürgertum sowie in Ostdeutschland vorhandene antiamerikanische Stimmung weiter ausgebreitet. Ein gespaltener Westen wird sich angesichts der neuen weltpolitischen Herausforderungen nur schwer behaupten können. Es bleibt vordringliche Aufgabe, die Einheit und politisch-ökonomische Vitalität des Westens wiederherzustellen. Hierzu muss auch Deutschland einen gewichtigen Beitrag leisten.
10.Die zulasten der Vertiefung des westlichen Kerneuropas aus ordnungs- und geopolitischen Gründen vorgenommene Erweiterung der EU hat den Prozess der Integration der Staaten und der Identifikation der Bevölkerung mit der EU gestoppt. Weiterhin ist nicht Europa, sondern sind die alten Nationalstaaten die Bezugsgrößen der Menschen in den verschiedenen Staaten.

Trotz aller Probleme und weiterhin absehbarer Schwierigkeiten ist angesichts der geschilderten Rahmenbedingungen die deutsche Vereinigung besser gelaufen als es die Stimmung in Ost und West ausdrückt. Positiv gesehen ist das vereinte Deutschland eine normale Gesellschaft geworden, deren Sonderbedingungen entfallen sind und die nun mit den gleichen Problemen wie andere Länder zu kämpfen hat. Negativ gesehen steht Deutschland durch die Veränderungen vor der Herausforderung, ob die in Zeiten des Wohlstands entstandene Akzeptanz der freiheitlich-demokratischen und pluralen Ordnung stärker als in Ländern mit längerer bzw. ungebrochener demokratischer Tradition bedroht ist. Nüchtern betrachtet mangelt es Deutschland vor allem an einem Konsens über Grundüberzeugungen, einem Zusammengehörigkeitsgefühl und Leitlinien, wie die Zukunft aussehen soll. Immer noch wissen wir nur unzureichend, wer wir sind und was wir wollen – darin liegt das eigentliche Defizit.

Die Fehler der Vereinigungspolitik – vor allem ihre Finanzierung über die Sozialkassen und einen gigantischen Anstieg der Staatsverschuldung – lassen sich nur durch eine grundlegende Reform des Sozialstaates überwinden. Der fehlgeschlagene Aufbau Ost erzwingt insofern eine umfassende Modernisierung der deutschen Wirtschafts- und Sozialordnung. Erst wenn diese von Politik und Gesellschaft überzeugend begonnen wird, werden Diskussionen über den eingeschlagenen Vereinigungsweg beendet werden können. Der Blick auf das Erreichte würde nicht mehr durch unbeabsichtigte negative Folgen der Politik getrübt. Bei allen Schwierigkeiten und Widrigkeiten im Detail sollten wir nicht vergessen, dass zumal angesichts der gleichzeitigen Einwanderung von Millionen Menschen diese gewaltige und ohne Vorbild vollzogene Aufgabe der Vereinigung zweier über Jahrzehnte geteilter Landesteile eine historisch beispiellose Leistung war und ist.

Das Buch ist erschienen beim Verlag Ernst Vögel, München/Stamsried 2006

Kontakt:
Klaus Schroeder
Forschungsverband SED-Staat der FU-Berlin
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Fax 030/838 55235
Mai: kschroe@zedat.fu-berlin.de

geb. 1949 in Lübeck-Travemünde, promovierter Soziologe und habilitierter Politikwissenschaftler, Leiter des Forschungsverbundes SED-Staat der FU sowie der Arbeitsstelle Politik und Technik des Otto-Suhr-Institutes.

Ausgewählte Veröffentlichungen:
- Der Weg in die Stagnation. Eine empirische Studie zur Konjunkturentwicklung und Konjunkturpolitik in der Bundesrepublik von 1967-1982, Westdeutscher Verlag, Opladen 1984;
- Wissens- und Technologietransfer. Bedeutung und Perspektiven einer regionalen technologiepolitischen Strategie am Beispiel Berlins (Mitautor), Dunker und Humblot, Berlin 1991;
- Transaktionsprozesse in ostdeutschen Unternehmen. Akteursbezogene Studien zur ökonomischen und sozialen Entwicklung in den neuen Bundesländern (Mitautor), Akademie-Verlag, Berlin 1995;
- Land in Sicht. Die Fusion von Berlin und Brandenburg (Mitautor), Aufbau-Verlag, Berlin 1996;
- Der SED-Staat. Partei, Staat und Gesellschaft 1949-1990, Hanser-Verlag, München 1998;
- Der Preis der Einheit. Eine Bilanz, Hanser-Verlag, München 2000;
- unter Mitarbeit von Steffen Alisch, Susanne Bressan, Monika Deutz-Schroeder, Uwe Hilmer: Rechtsextremismus und Jugendgewalt in Deutschland. Ein Ost-West Vergleich, Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2004
- Seit 2004 gemeinsam mit Peter März Herausgeber der Reihe Studien zur Politik und Geschichte, Verlag Ernst Vögel, Stamsried.

28.11.2006: |

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