Büffelgras-Wodka mit Franz Walter – Süffige Sammlung von Spiegel-Essays über den Zustand der deutschen Politik im Jahr 2006
Pressetext verfasst von NeueNachricht am Di, 2006-10-24 11:24.Von Ansgar Lange
Deutsche Sozialwissenschaftler bewohnen den Elfenbeinturm. Der modernen Technik stehen sie oft mit Skepsis gegenüber und brüsten sich damit, dass sie nicht in der Lage sind, E-Mails zu lesen oder zu schreiben. Ein deutscher Professor hat seine Sekretärin, die alles für ihn tippt. Und wenn er ein Buch veröffentlicht, interessieren ihn die Millionen potenzieller Leser unter den Bundesbürgern nicht. Es ist ihm lieber, er findet einen entlegenen Fachverlag und schreibt nur für die Fachkollegen. Und wenn das eigene Buch ein paar Hundert Seiten dicker ist und noch fußnotengeschwängerter daherkommt, umso besser. Selbstverständlich ist dies alles sehr überzogen. Doch jeder, der einmal eine deutsche Universität betreten hat, wird ein Körnchen Wahrheit in diesen Sätzen entdecken. Wie diese lebensfremden, aber staatlich bestens alimentierten Damen und (in den meisten Fällen) Herren die jungen Leute vor dem Prekariat bewahren und lebens- und berufstüchtig machen wollen, steht in den Sternen.
Ein ganz anderer Fall ist der Göttinger Hochschullehrer Franz Walter. Er unterrichtet ordnungsgemäß an einer deutschen Universität Politikwissenschaft und hat einige Fachbücher publiziert. Doch er tut mehr und anderes als viele seiner Zunftgenossen: Er scheut sich nicht, seine elegante Feder auch den Medien zur Verfügung zu stellen und schreibt fleißig für die Welt, die taz, den Spiegel oder die Frankfurter Rundschau. Und es kommt noch „schlimmer“. Walter scheut sich nicht, auch für Spiegel Online http://www.spiegel.de in regelmäßigen Abständen Essays zu verfassen. Damit betritt er Neuland. „Dieses Buch ist eine Premiere. Zum ersten Mal erscheint der Band eines Wissenschaftlers mit politischen Essays, die zuvor ausschließlich im Internet veröffentlicht wurden“, schreibt Mathias Müller von Blumencron, Chefredakteur von Spiegel Online, in seinem Vorwort. Das Internet sei das globale Diskussionsforum des 21. Jahrhunderts, und die Online-Medien nähmen die Rolle als neues Kaffeehaus wahr. Walter und Spiegel Online haben verstanden: Wer die Leser von heute erreichen und insbesondere die jungen Menschen für Politik interessieren will, kann sich den neuen Medien nicht verschließen.
Die Beiträge sind zwischen Januar und September 2006 bei Kaffe, Keksen und gelegentlich Büffelgras-Wodka im engen Austausch mit Walters Mitarbeitern und Studierenden entstanden. Man wäre gern dabei gewesen. Sicher waren die Gespräche interessant, und Büffelgras-Wodka ist auch ganz lecker. Der Buchtitel ist etwas irreführend. Walter träumt nicht nur von der schwarz-grün-gelben Jamaika-Koalition, sondern macht sich seine Gedanken über die deutsche (Innen-)Politik des Jahres 2006. Eingestreut sind auch einige historische Reminiszenzen, wenn der Autor über Willy Brandt, Herbert Wehner, die Intellektuellen und die ESPEDE oder die 68er nachdenkt.
Die Vielfalt der Artikel beinhaltet eine Vielzahl von Themen und lässt sich daher nicht auf einen Nenner bringen. Walters Grundthese besagt, dass die Republik zurzeit „den Charme der Nüchternheit, des soliden Handwerks, der verlässlichen Kärrnerfiguren“ verströmt, für den Figuren wie Merkel, Müntefering, Kauder und Struck stehen. Den Parteien ist die Fähigkeit abhanden gekommen, die Gesellschaft zu prägen. Es ist eben nicht die Elite, die in den Parlamenten sitzt, und wahrscheinlich haben die meisten Parlamentarier auch gar nicht die Zeit, um sich wirklich sachkundig zu machen. Ihr Magen muss leistungsfähiger sein als ihr Hirn, sonst würden sie die Unmengen an Bratwürstchen, Bier und Senf bei Feuerwehrfesten, Vereinsjubiläen oder Grillparties im heimischen Wahlkreis gar nicht verkraften. „Moderne Politiker können daher bestenfalls Schwämme sein, die Stimmungen aufsaugen; aber sie sind keine Vordenker, die Entwicklungen prägen“, bilanziert der Spiegel Online-Autor. Und fährt wenig schmeichelhaft fort: „Placebopolitik, Kuhhandel, Kompromiss und Tausch – darin besteht die Räson moderner Politik.“
Moderne Politiker vertilgen Bratwürstchen und fungieren als Schwämme
Zurzeit beherrscht die Linke wieder die Diskurshoheit und besetzt das Thema „Unterschichten“. Manche werden gern die angeblich kalte „neoliberale“ Politik dafür verantwortlich machen und übersehen, dass sie in unserer Konkordanz- und Verhandlungsdemokratie, die keine scharfe Wettbewerbsdemokratie ist, nie praktiziert wurde. Wer soll die so genannten „Unterschichten“ vertreten? Am ehesten wahrscheinlich noch die Linkspartei, die allerdings nur in der Opposition stark ist und ihre populistischen Parolen verkünden darf. Rot-rote Bündnisse wie in Berlin leben zwar über ihre Verhältnisse, doch es zeigt sich schnell, dass sich auch Dunkelrot den Zwängen der Politik nicht entziehen kann, wenn man denn mit auf der Regierungsbank sitzt. Am wenigsten können sich die sozial Benachteiligten in diesem Lande von den Grünen vertreten dürfen, denen trotzdem irrtümlicherweise immer noch ein gewisser Heiligenschein zueigen ist, obwohl ihre Wähler sozial und finanziell in der Regel sogar besser gestellt sind als diejenigen der „bösen“ und „kalten“ FDP.
Die Grünen waren nur in der Zeit mutig und kämpften gegen den Status quo, als sie noch nicht im Establishment angekommen waren: „Denn in den frühen achtziger Jahren war die grüne Klientel jung, ungebunden, ohne Geld und Stellung. Die politische Provokation gefährdete als keine Besitzstände. Im Gegenteil, sie verschaffte der damals blockierten jungen Generation von chancenlosen Lehramtskandidaten Gehör und schließlich Einfluss. Ohne die politischen Regel hätte die Generation der Bildungsexpansion nicht ein nach BAT II a und A 13 finanziertes Berufsnetz von Gleichstellungsbeauftragten, Umweltreferenten, Sozialarbeitern, Therapeuten knüpfen und weit über die christdemokratisch regierte Republik der achtziger/neunziger Jahre aufspannen können.“ Walter hat recht: Die Grünen sind zur reinen Honoratioren- und Fraktionspartei geworden.
Doch bei der Union sieht es nicht unbedingt besser aus. Die profil- und entscheidungsschwache Kanzlerin und ihr Team auf graugesichtigen Bürokraten und Technokraten tun ihr Bestes, um die Union ins Abseits zu manövrieren. Bei der Union schrillen die Alarmglocken, weil ihr die bürgerlichen Wähler in Scharen davon laufen, schreibt Michael Inacker in der Wirtschaftswoche http://www.wiwo.de. Bei „Angie“ müssten auch die Alarmglocken schrillen, wenn ein evangelisch-konservativ geprägter Publizist, der der CDU gewiss nicht fern steht, zu einem solchen Befund kommt. Die Union, so Inackers Analyse, droht zwischen zwei Fronten zerrieben zu werden: „Neben dem Aderlass Richtung FDP wenden sich im selben Umfang CDU-Wähler aus der von SPD-Vormann Beck so bezeichneten ‚Unterschicht’ der Partei der Nichtwähler zu.“
Der bürgerliche Neuliberalismus, so die Deutung des Göttinger Gelehrten, habe die alterkonservativen Bindungen untergraben. Allerdings blieb dieser neue Ton, der in Leipzig zu höheren Weihen erhoben wurde, politisch folgenlos. Politiker wie Ole von Beust oder Jürgen Rüttgers versuchen nun verzweifelt, die Union wieder ein sozialeres Gesicht zu geben. Kann eine Partei Wähler gewinnen, wenn sie ihren klassischen Konservatismus und ihren traditionellen Katholizismus an den Rand gedrängt und zur Bedeutungslosigkeit verurteilt hat? Der Union fehlen die Personen, die für ein bestimmtes Programm stehen. Dies hört sich banal an, ist aber die Voraussetzung dafür, weiterhin Volkspartei zu sein. Selbst in der Jungen Union, die sich lange Zeit FDJ-mäßig für die Parteivorsitzende engagierte, scheint der Applaus nicht mehr so stark auszufallen, wenn die Kanzlerin über die vermurkste Gesundheitsreform doziert.
Jamaika ist nicht sexy
Und die SPD? Wenn der Altkanzler und Aufsteiger Gerhard Schröder nicht gerade damit beschäftigt ist, Zigarren zu rauchen, teuren Rotwein zu kosten oder neue Jobs an Land zu ziehen, dann pöbelt er anlässlich der Veröffentlichung seiner Erinnerungen an seine folgenlose Kanzlerschaft gegen die Gewerkschaften. Walter kann dies aber alles viel besser und sachlicher ausdrücken: „Und so hat sich die sozialdemokratische Kernklientel im letzten Vierteljahrhundert grundlegend verändert: Wir haben es nicht mehr mit Bergleuten, Zechenarbeitern, Maurern und Druckern zu tun. Wir finden die Herzkammern der Partei nicht mehr im Ruhrgebiet. Die Partei schmeckt keineswegs mehr nach Kohlenstaub und Maschinenfett – sondern nach Büro, Klassenzimmer, Klarsichtfolie, PC.“ Die FDP vergessen wir in unserer Aufzählung mal, da ihr wundersamer Aufstieg in den Umfragen wohl nur damit zusammenhängt, dass die Liberalen momentan im Zustand der politischen Impotenz sind und nichts bewegen können – und somit kann man sie auch nicht für mancherlei Unbill verantwortlich machen. Jamaika verliert also sehr stark an Sex, wenn man einmal gründlich überlegt, dass sich nicht viel ändert, wenn man ausgeblutete und ausgepowerte politische Parteien bunt untereinander mischt.
Insgesamt zeichnet der Autor eine stellenweise recht trostloses, aber realistisches Bild der deutschen Politik im Jahr 2006. Doch dabei wird er nie maßlos und kritisiert ebenso die übertriebenen Ansprüche und die Kurzatmigkeit der kommentierenden Klasse und auch der Bürger. Das schmale Buch ist sehr gut geschrieben. Man liest mit Genuss und Gewinn, wie marode unser Gemeinwesen ist. Leider liefert Walter nur die Diagnose. Er verweigert die Antworten darauf, wie Lösungen auszusehen haben. Vielleicht lesen wir die dann in den Spiegel-Essays des Jahres 2007. Franz Walter sollte schon mal Kaffee, Kekse und Büffelwodka für sein Göttinger Seminar einkaufen.
Franz Walter: Träume von Jamaika. Wie Politik funktioniert und was die Gesellschaft verändert. Verlag Kiepenheuer und Witsch http://www.kiwi-verlag.de, Köln 2006. 255 Seiten, 8,95 Euro, ISBN 10: 3-462-03760-9.