Ein Gott, der keiner war: Der starke und steuernde Staat hat abgedankt – Vorabmeldung des Wirtschaftsmagazins NeueNachricht
Pressetext verfasst von NeueNachricht am Do, 2006-09-28 09:40.Bonn, www.ne-na.de - „Politik beginnt mit dem Betrachten der Wirklichkeit“. Dieser Satz stammt von Kurt Tucholsky. Vielleicht ist es so, dass die Deutschen zu sehr auf die Politik und auf den Staat fixiert sind. „Dass wir seit einigen Jahren schon Zeugen eines massiven staatlichen Versagens sind, ist evident. Der Staat zeigt sich immer nur dann angriffslustig und mächtig, wenn es um seine eigenen Pfründe geht“, schreibt Chefredakteur Ansgar Lange in der Herbstausgabe des Wirtschaftsmagazins NeueNachricht http://www.neue-nachricht.de .
„Der westliche Industriekapitalismus und die scheinbar so gegensätzliche sowjetische Planwirtschaft hatten vieles gemeinsam. In erster Linie dies, dass es beiden Systemen nicht gelang, eine stabilisierende Vielfalt zu errichten. Die immanente Unfähigkeit, Neues zu erkennen und zu befördern, finden wir in beiden Systemen gleichermaßen“, behauptet der Brandeins-Autor Wolf Lotter in seinem neuen Buch „Verschwendung“, mit dem sich NeueNachricht kritisch auseinandersetzt.
Lotter weise nach, dass seit den siebziger Jahren in den meisten Staaten der OECD die Industrie nicht mehr der bedeutendste volkswirtschaftliche Faktor ist. Dienstleistungen hätten sie überrundet. Seit Jahrzehnten verliere die Industrie Millionen von Jobs, doch keinen störe es. Die aufstrebenden Emerging Markets begründen ebenfalls keine „vollständige Renaissance der alten industriekapitalistischen Verhältnisse, nach denen sich die meisten Machthaber der Ersten Welt noch heute zurücksehnen“. „Es zeigt sich, dass die neuen kapitalistischen Großmächte nicht den Fehler der Monokultur begehen, der die europäische Wirtschaft so angreifbar macht“, so Lotter.
Der Spiegel-Autor Gabor Steingart malt schon einen „Weltkrieg um Wohlstand“ an die Wand. Und in der Tat: Die Asiaten greifen an. Den Aufstieg Indiens verbinde man insbesondere mit dem Siegeszug der dortigen IT-Branche, so Lange. Mehr als andere Länder habe Indien von der Verlagerung anspruchsvoller Dienstleistungen in Niedriglohnländer profitiert. Ein indischer Ingenieur verdient ein Viertel eines deutschen, und er spricht Englisch. Neben der Klasse bietet Indien auch die Masse. Jährlich bringen Indiens Universitäten 250.000 neue Ingenieure hervor – mehr als die USA. Nach Ansicht von Arvind Virmani, einem der renommiertesten Volkswirte Indiens, wird das Land in den nächsten 15 Jahren den Welthandel mit Dienstleistungen genauso revolutionieren, wie es China in den vergangenen 15 Jahren beim Welthandel mit Gütern gelungen sei.
Der Westen hat den Aufstieg Indiens und anderer Schwellenländer weder richtig registriert noch verkraftet. Die neue Unübersichtlichkeit verunsichert. Kein Wunder, dass manche mit nostalgischen Gefühlen an die übersichtliche Welt der Industriegesellschaft zurückdenken.
Die Fixierung auf den Industriekapitalismus ist ein Produkt der deutschen Geschichte. Denn einst ist das Deutsche Reiche damit groß geworden. „Made in Germany“ sollte – so die Intention der Briten – deutsche Produkte als minderwertig diskreditieren. In Wahrheit entpuppte sich das ganze als Drei-Worte-Hymnus auf deutsche Ingenieurskunst, die weltweit ihresgleichen suchte und nicht fand. Mit fatalen Folgen: „Dieser alte Erfolg steckt uns in den Knochen – denn, wie gesagt: Nichts ist schlimmer, nichts macht müder als der Erfolg der vergangenen Tage.“
Dieser Siegeszug hatte noch andere Schattenseiten, denn die Industriegesellschaft führte zum Zentralismus, zur Norm und zum Standard. Mit diesen Waffen konnte das Deutsche Reich nach Ansicht Lotters den englischen Konkurrenten ausstechen: „Und so wurde Deutschland zur größten Industrienation Europas, seine Ingenieure zum Synonym für die Berechenbarkeit der Welt und, was noch viel wichtiger ist, für Sicherheit. Denn Normen und Standards liefern brauchbare Hinweise auf Qualität, auf Zuverlässigkeit und Dauer der Nutzbarkeit von Produkten. Sie schaffen Vertrauen.“
Doch der Industrialismus sei kein Naturgesetz, sondern bloß ein „historischer Treppenwitz“, wenngleich mit hoher Wirkung auf unser Bewusstsein. Seit Mitte der neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts verliert die Bundesrepublik jährlich fünf Prozent ihrer Industriearbeitsplätze. Das macht täglich mehr als neunhundert Jobs. Laut Lotter gibt es kein Entrinnen: Die Industrie – wie wir sie kennen – sei tot. Stark sei nur ihr Echo. Industriearbeitsplätze werden voraussichtlich nie wieder die Basis für einen starken Staat bilden.
Folgt man der Argumentation des Brandeins-Redakteurs, dann führt das starre Festhalten an alten Strukturen, die aber keinen Erfolg mehr verheißen, zu einem lähmenden Zukunftspessimismus. Die europäischen Eliten haben die Gesetze der „Economy of Speed“ bis heute nicht akzeptiert, im Gegensatz zu zahlreichen Intellektuellen aus den USA, Asien und Afrika. Ultrarechte und Globalisierungsgegner sitzen in den Schützengräben und wollen den Lauf der Dinge aufhalten. Alexander Gauland, namhafter konservativer Publizist und Buchautor, meldet sich in regelmäßigen Abständen zu Wort und mahnt die Konservativen, sie mögen dem Rad der Geschichte in die Speichen greifen und es anhalten. Gauland spricht sich dezidiert für eine „Entschleunigung“ aus und meint allen Ernstes, der Sozialstaat dürfe keinen ökonomischen Zwängen unterworfen werden. Wäre Deutschland eine Insel und autark, könnte man diesen Gedankengängen einiges abgewinnen.
„In Deutschland setzt man immer gern auf ‚Vater Staat’, auch wenn dieser längst mit leeren Händen dasteht. Jedes Jahr werden rund 100 Milliarden Euro für die so genannte Familienpolitik ausgegeben. Und selbst konservative Journalisten und Experten rufen nach immer mehr Geld. Dabei hat der ganze Geldsegen die Zeugungsbereitschaft der Deutschen nicht unbedingt befördert. Ähnlich verhält es sich bei der Subventionierung des Arbeitsmarktes: Über 150 Milliarden Euro sind seit 1990 in den Erhalt von Arbeitsplätzen in Ostdeutschland geflossen. Geldausgeben bringt eben nicht immer Segen, wie man an folgenden Zahlen sehen kann: 1962 wurde die Sozialhilfe eingeführt als Überbrückungshilfe für Notfälle. 1963 zahlten die deutschen Städte und Gemeinden 600 Millionen DM, ihre Investitionen lagen im gleichen Jahr bei 60 Milliarden: ein Verhältnis von 10:1 zu Gunsten der Investitionen. 40 Jahre später fließen 30 Milliarden Euro in die Sozialhilfe und 24 Milliarden in Investitionen: ein Verhältnis von 0,8:1 gegen Investitionen – wir zahlen mehr für den Reparaturbetrieb als für die Zukunft“, listet Lange auf.
Für Sicherheit und Stabilität müsse jeder selbst sorgen. Der eine werde sie in seiner Familie finden, der andere in seinem religiösen Bekenntnis, der dritte vielleicht bei Freunden und im Verein. Der Staat habe schon genug damit zu tun, dass er seine Bürger vor Kriminalität, Terrorismus und Kriegen beschützt. „Ansonsten ist der Staat kein Gott und war auch nie einer. Daher muss das Resümee der hier angestellten Überlegungen auch ein wenig schwammig und unbefriedigend ausfallen. Wenn es um die eigene Altersversorgung geht, weiß mittlerweile jeder, der die Realität zur Kenntnis nimmt, dass ihn der Staat über Jahre wider besseres Wissen belogen hat. Wer sich auf seine staatliche Rente verlässt, der ist im Alter verlassen. Daher sorgen diejenigen, die auch mit über 60 noch angemessen leben und der Gemeinschaft dann nicht auf der Tasche liegen wollen, selber vor“, schreibt der NeueNachricht-Chefredakteur.
In der Tat: Die Arbeitswelt wird sich wandeln, weil sie sich immer gewandelt hat. Nach Prognosen werden demnächst vier Fünftel aller menschlichen Tätigkeiten aus Beraten, Forschen, Entwickeln, Organisieren, Vernetzen, Managen, Recherchieren und Gestalten bestehen. Netzwerken werde ganz groß geschrieben. Felixbergers Gedanken lassen sich so zusammenfassen: In Zukunft wird es mehr Selbstunternehmer geben, ein Recht auf persönliche Freiheit, digitale Netzwerke und virtuelle Communitys, flachere Hierarchien und Networking.
„Die früheren Zeiten sind vorbei. Heute fängt kein 17-jähriger mehr in einem Betrieb als Lehrling an, um dann mit 65 das Werkstor zum letzten Mal zu passieren und in Rente zu gehen. Was wird die Zukunft bringen? Keiner weiß die Antwort. Positiv gewendet: Es bleibt spannend. Die Geschichte ist noch nicht an ihr Ende gekommen“, schließt Lange seinen Beitrag.
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