NeueNachricht fragt: Kippt die Demokratie? – Nach dem Philip Marlowe-Prinzip der Resignation trotzen

Bonn – Die Unzufriedenheit mit dem politischen System in der Bundesrepublik wird immer größer. Die Große Koalition führt zu großem Verdruss. Bei den Wählern macht sich der Eindruck breit, sie hätten nur noch die Wahl zwischen Pest und Cholera. „Alles in allem leben wir doch in stabilen Verhältnissen. Außerdem war der Sommer schön. Kein Grund zur Panik also. Manchmal kommen aber auch dem hartgesottenen Verteidiger unseres Gemeinwesens Zweifel. Es mag mein subjektiver Eindruck sein, doch in Gesprächen erlebe ich, dass die Menschen zusehends ratloser werden. Das hat viel mit der derzeitigen Konstellation der Großen Koalition zu tun. Erst wollte Angela Merkel mit uns mehr Freiheit wagen, jetzt dürfen wir unsere Zukunft nicht verbrauchen. Ich habe den Eindruck, dass die gesamte Regierung schon so verbraucht aussieht wie Helmut Kohl nach 16 Jahren der Regentschaft – noch nicht aussah“, schreibt Ansgar Lange in der Herbstausgabe der Zeitschrift NeueNachricht http://www.neue-nachricht.de.

Was solle man denn davon halten, wenn Arbeitsminister Franz Müntefering die Menschen belehre, es sei ungerecht, die Parteien an dem zu messen, was sie vor der Wahl versprochen hätten? „Ich bin deshalb so enttäuscht, weil ich wie ‚Münte’ aus dem Sauerland komme und dort gemeinhin gilt, was man sagt. Man stelle sich mal vor, ein Ehemann würde zu seiner Gattin sagen: ‚Natürlich habe ich Dir vor der Ehe lebenslange Treue geschworen. Aber es ist total gemein von Dir, mich jetzt daran zu erinnern. Ich hätte Dich doch sonst nie an den Traualtar bekommen, wenn ich Dir gesagt hätte, dass ich Dich noch in der Hochzeitsnacht betrüge.’ Ein schiefer Vergleich? Wohl kaum, schauen Sie sich nur die Diskussion über die Erhöhung der Mehrwertsteuer und die krank machende Debatte über die Gesundheitsreform an“, fährt der Bonner Publizist fort.

Lange verweist auf das jüngst erschienene Buch „Sozialstaat am Scheideweg“ von Detlef Grieswelle. „Demokratie und soziale Marktwirtschaft sind bei uns in Deutschland siamesische Zwillinge“, schreibt der Autor in seinem Schlusswort. Und er warnt: „Diese Meinung, die von Demokraten betriebene Politik sei generell in hohem Grade unfähig, kann unter der Voraussetzung sich weiter entwickelnder Enttäuschungen und Ängste zu grundlegender Demokratiefeindlichkeit führen.“ Krisen-, Niedergangs- und Katastrophenmetaphern bestimmen heute den intellektuellen Diskurs unter Schriftstellern, Wissenschaftlern und Journalisten. Und diese Stimmung ist längst in der Bevölkerung angekommen.

„Ich kenne das aus meinem Bekanntenkreis. Ich bin 1971 geboren. Der Begriff von der ‚Generation Praktikum’ trifft den Alltag viel besser als die schnöselige Langweilprosa eines Florian Illies und seiner ‚Generation Golf’. Die alte Gewissheit, dass es die Jungen mal besser haben als die Älteren, ist geschwunden. Trotz guter Studienabschlüsse, Sprachkenntnisse und Auslandsaufenthalte schleppt sich ein großer Teil dieser prekären Generation der um die 30-Jährigen von Praktikum zu Praktikum“, meint der Chefredakteur der NeuenNachricht.

Beim Zahnarzt ertrage man das Bohren, weil man wisse: Nachher wird es besser. Diese Glaube sei in der Politik dahin. „Die intellektuellen Kritiker sind bei aller Hoffnung in der Mehrheit der Meinung, die Chancen, dass das politische Führungspersonal die notwendigen Reformen durchsetzen würde, seien begrenzt, parteipolitische Orientierung mit dem Ziel des Wahlerfolges dominiere über staatsmännisches Haltung und Bereitschaft zu Wahlrisiken“, so Grieswelle. Alle sind unsicher: Rentner, Arbeitnehmer, mittelständische Selbständige, jungen Menschen. Eine aktuelle Umfrage von McKinsey belegt: Nur 60 Prozent der Deutschen sind zufrieden mit ihrem Leben in Deutschland. Gar nicht so wenige gehen nach Australien, in die USA, nach Österreich oder in die Schweiz.

Lange hält Resignation aber für die völlig falsche Reaktion: „Doch da können wir nicht alle hin. Wer sich völlig von der Gesellschaft und von der Politik abwendet, der bekommt auch weiterhin nur diesen Mist serviert. Verfahren wir doch nach dem Philip Marlowe-Prinzip. Diese Romanfigur von Raymond Chandler ist ein harter Hund, doch auch ein Melancholiker und Moralist. Er kämpft mutig weiter in einer durch und durch korrupten Welt und steht immer wieder auf. Nur wer seinen Job gut macht und sich nach seinen Möglichkeiten einmischt – politisch, in Vereinen, publizistisch, als Unternehmer etc. -, der kann etwas dagegen tun, dass ‚unsere Zukunft verbraucht’ wird. Letztlich hängt alles von Personen ab, und so haben wir auch keine Krise der Demokratie, sondern eine Krise des politischen Personals. Charismatische Figuren wie Benedikt XVI. zeigen doch, dass eine einzelne Person viel bewegen kann. Möge der Herr ein Benedetto-Gen unters politische Volk mischen.“

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15.09.2006: