Hans-Georg Aschenbach: Mein Leben für den Leistungssport

Es war eine einfache Arbeiterfamilie, in die ich am 25. Oktober 1951 hineingeboren wurde, meine Eltern Alfred und Bärbel führten eine harmonische Ehe, zumindest empfand ich das als Kind so. Ihr Leben war durch die Vertreibung meiner Mutter aus Oberschlesien bestimmt; das gleiche Schicksal teilte auch meine Großmutter, Oma Lene. Sie war geprägt von den Ereignissen des Zweiten Weltkrieges, was ich als Kind zwar nicht begriff, aber früh an ihrer Liebe zur Freiheit und zum friedlichen Miteinander spürte. Schließlich fand sie für sich und ihre Familie im Osten Deutschlands, in Brotterode, ein neues Zuhause; wir alle waren also, wie man heute sagen würde, eine Immigrantenfamilie. Die wichtigsten familiären Bezugspunkte für mich als Kind waren meine Eltern und mein großer Bruder Dietmar. Oma Lene spielte immer eine besondere Rolle, denn meine Eltern waren beide berufstätig, und so war sie es, die für meinen Bruder und mich kochte, uns benähte und tagsüber unser Anlaufpunkt war. Aus heutiger Sicht denke ich, dass meine enge emotionale Bindung an Oma Lene tatsächlich meinem Großvater zu verdanken ist, denn sie hat mir sehr oft und sehr viel von ihrem Mann erzählt.

Euer Held. Euer Verräter.
Mein Leben für den Leistungssport
Hans-Georg Aschenbach
Mitteldeutscher Verlag
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Mein Opa wurde als deutscher Offizier nach Stalingrad befohlen, hatte aber eigentlich den Wunsch, Medizin zu studieren und die Uniform ruhen zu lassen. Aus diesen Plänen ist nie etwas geworden, denn er kehrte nicht aus Stalingrad zurück. Oma Lenes Erzählungen von ihm übten auf mich stets eine magische Wirkung aus. In meiner Vorstellung malte ich mir meinen Opa als faszinierenden Mann aus, er wurde zu einer Art Vorbild für mich. Oma Lene sagte mir immer, ich hätte Hände wie er und Talente wie er, sie sah mich mit anderen Augen als der Rest meiner Familie, und ich sah in ihr stets einen Gradmesser, der mir anzeigte, ob ich etwas richtig oder falsch gemacht hatte. Vielleicht war es gut, dass sie in einer vollkommen anderen Welt lebte, eben geprägt von den Ereignissen ihres Lebens. Möglicherweise hat sie durch ihre Art, durch die immer gleichen Geschichten und mein immer gleiches Interesse daran, so etwas wie Akzeptanz und Aufarbeitung ihrer persönlichen Vergangenheit schaffen können. Außer Oma Lene sprach in meiner Familie jedoch niemand viel über Vergangenes, über Erinnerungen, Ängste oder erlebte Schicksale. Auch mein Vater wurde in den letzten Kriegswochen als Kindersoldat eingesetzt. Wie ihn das prägte und veränderte, kann ich nur erahnen, gesprochen haben wir darüber nicht. Vermutlich ging es bei uns zu wie bei sehr vielen Familien dieser Generation. Schweigen und Verdrängen waren die Mittel der Wahl zum Verarbeiten der Realität. Eine schwierige Einstellung, wie ich heute weiß. Trotzdem, oder vermutlich sogar genau deshalb, bin ich sehr umsorgt und behütet in unserer kleinen Gemeinde am Fuß des Inselberges aufgewachsen, auf eine gewisse Art abgeschieden von der Welt. Es gab dort damals eine einzige Zugverbindung in die Kreisstadt Schmalkalden. Ich lebte mit meiner Familie auf dem Gut eines Großbauern, was zur damaligen Zeit bedeutete, sich dort einzubringen und mitzuarbeiten. Als Kind half ich beim Heumachen, bei der Kartoffelernte oder bei der Viehfütterung, und verdiente so zu Essen und Trinken dazu, gewissermaßen erwirtschaftete ich meinen Anteil für die Familie. Nicht, dass meine Eltern mich nicht versorgt hätten, aber in der damaligen Zeit war alles recht knapp, und so schadete es nicht, wenn wir alle mithalfen, satt zu werden. Schon als Kind begriff ich die simple Logik: Ich half dem Bauern, und er gab mir dafür eine Belohnung. Dieses Prinzip sollte mir nicht das letzte Mal in meinem Leben begegnen.
Mit sieben Jahren zog ich mit meinen Eltern und meinem Bruder erstmals in eine gemeinsame Wohnung, weg von der kargen Unterkunft auf dem Bauernhof, raus aus der Ortsmitte, hin an den Ortsrand. Damit gehörte das samstägliche Baden in der Zinkwanne der Vergangenheit an.


Über Erhard Coch

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Erhard Coch ist Autor verschiedener Bücher und Essays.