Ahasver, Moses und die Authentizität der jüdischen Moderne

In Frankfurt, wo ich wohne, ist das Wort Jude der unzertrennliche Schatten aller Begebenheiten, aller Verhältnisse, aller Gespräche, jeder Lust und jeder Verdrießlichkeit. […] Wer nun, gleich mir, diese Narrheit schon zwanzig Jahre beobachtet hätte, der würde sich auch daran gewöhnt haben, zürnend oder lächelnd, tadelnd oder bemittelnd, wie ich, auszurufen: der ewige Jude!« Ludwig Börnes ironische Verwendung des Begriffs »Ewiger Jude« im Jahre 1821 als Bezeichnung für die Juden als Kollektiv ist von Adolf Leschnitzer schon vor vierzig Jahren als Paradigmenwechsel im Verständnis der jüdischen Rolle in Europa überhaupt erkannt worden. Seine Grundlage hat der Begriff in der Legende, die in ihrer Grundstruktur bis ins Mittelalter zurückreicht und von einem (nicht in allen älteren Versionen jüdischen) Mann erzählt, der Jesus am Tage seiner Verurteilung geschlagen oder geschmäht hatte und in der Folge von diesem zu ewigem Wandern verflucht wurde. Populär wurde diese Legende in ihrer Version als Kurtze Beschreibung und Erzehlung von einem Juden
/ mit Namen Ahaßverus von 1602.

Wandernde Schatten
Ahasver, Moses und die Authentizität der jüdischen Moderne
Alfred Bodenheimer
Wallstein Verlag
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Dort ist sie in ein Jugenderlebnis des wenige Jahre zuvor verstorbenen Superintendenten von Schleswig, Paulus von Eitzen, eingebettet. Dieser, so heißt es, habe im Winter 1542 in der Kirche zu Hamburg einen seltsamen Mann getroffen, der immer bei der Nennung des Namens Jesu in größte Erregung verfiel, sich neigte, an die Brust schlug und seufzte. Es handelte sich dabei um den jüdischen Schuster Ahasver, der einst Jesus auf dem Kreuzweg die Bitte ausgeschlagen hatte, bei seinem Haus etwas auszuruhen, und von diesem entsprechend den Fluch empfing: »Ich will stehen und ruhen / du aber solt gehen«.5 Zur erstmaligen Bezeichnung Ahasvers als »Ewiger Jude« kam es in einer Version der Erzählung aus dem Jahr 1694.
Leschnitzer folgt der Linie dieses Motivs und des damit transportierten Judenbilds bis ins 19. und 20. Jahrhundert und stellt einen Entwicklungsbruch zwischen der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und der Zeit nach Börnes Text fest: Die »christlichen Heilsvorstellungen, mit denen der Sinn der Ahasver-Sage unlöslich verknüpft war«, weichen im 19. Jahrhundert einer säkularisierten Symbolisierung des jüdischen Volkes in dieser Sagengestalt nichtjüdischen Ursprungs.
Besonders anhand des Auftretens des Bildes vom Ewigen Juden in der zeitgenössischen europäischen Wissenschaft läßt sich die Omnipräsenz dieser Figuration und ihrer Anwendung auf das jüdische Volk illustrieren. Einige besonders prominente Beispiele von Gelehrten sollen hier genannt sein. Festgehalten sei dabei, daß der deutsche Begriff »Ewiger Jude« und der parallele französische »Juif Errant« verschiedene Aspekte (Ewigkeit und Rastlosigkeit) bezeichnen, die aber jeweils voneinander nicht zu trennen sind. Es ist vielmehr gerade die Verbindung der beiden Elemente, die ein Ineinssetzen des jüdischen Volkes mit der Legendenfigur erst zuließ.


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Erhard Coch ist Autor verschiedener Bücher und Essays.