MetaPhone XXIII – ab November 2009 mit »uräus«

Wie der Rhein in Caput I „Mäander“ unmerklich zum Bedeutungsraum wird, so im 2. Kapitel „uräus“ der Nil. Dieses Mäandern ist eine Form zwischen Polen suchender Schreibart, die dialogisch von Assoziation zu Assoziation Erkenntnisse produziert. Worin die "unerhörte Begebenheit" liegt, welche diese Novelle nach Goethes Definition zu einer solchen macht, erfährt man erst auf den letzten Seiten. Mit dem Wünschelruten–Blick des Schatzsuchers, laufen Nataly und Max über den Wüstensand und nehmen die Erschütterungen und Blessuren, welche die Verheerungen der Geschichte diesen alten Landstrichen zugefügt haben, auf. Im Rhythmus der Schritte erschließt sich ihnen der Geist dieser Landschaft, gleichsam das Versmaß der sie umgebenden Dinge. Es sind die im Wortsinne elementaren Gewalten, die das Leben bestimmen – aber erzählerisch zurückgenommen ins Kleinformat des Alltäglichen. Daß jedes Ding in dieser erzählten Welt über sich hinausweisen kann, verdankt sich gerade der Sorgfalt, mit der sie alle dem Realitätseffekt dienen. Unauffällig und früh sind die Signale gesetzt, diese novellistische Flußfahrt umsegelt die Scylla des Pathetischen ebenso sicher wie die Charybdis der Sentimentalität; diese verdankt sich der Sparsamkeit der erzählerischen Mittel und dem weiten Horizont, in den hinein dieses Erzählen sich öffnet. Meisterhaft ist sie in einem ganz handwerklichen Sinne. Und ebendeshalb erreicht sie so sicher jenen Punkt, an dem die stupende Präzision der pièce bien faite umschlagen kann in die Magie des Geschichtenerzählens. Mit Ossip Mandelstam gesagt: Poesie ist Ausbruch von Energie und ein Luxus, aber ein notwendiger. A.J. Weigoni ist in diesem Sinne ein luxurierender Schriftsteller.

Bei A.J. Weigoni entsteht das Schreiben aus sprachlicher Verdichtung, seine Novelle ist eine bewegende Hommage an das Leben in und aus der Möglichkeitsform: das Lesen. Seine gleichsam magische Begabung liegt darin, sich alles, wofür er Worte findet, spontan anverwandeln zu können. In seiner semantischen Mehrschichtigkeit zeigt er zugleich exemplarisch, was ihn als Prosa–Autor so heraushebt: eine poetische Genauigkeit und doch Offenheit der Sprache, die bewirkt, daß sich jedem einzelnen Wort hinterher lauschen läßt, als enthalte es eine ganze Welt. Folgen viele solcher Worte aufeinander, entsteht etwas, das am ehesten als eine Art assoziativer Klangraum bezeichnet werden könnte, ein schwer zu fassendes Phänomen, das eng mit der offensten aller Künste, der Musik, verwandt ist. Lese–Musik im Kopf. Seltener als man glauben möchte, gibt es unter Schriftstellern jene Solitäre, die vor allem ihrer inneren Stimme folgen und auf deren Werk der Markt und seine Moden oder die Eigenbewegung der Kunst nur wenig Einfluß haben. Manche werden berühmt, andere sterben weitgehend unbemerkt. Das Projekt »Vignetten« ist eine Langzeitbeobachtung intermedialer Wechselwirkungen, es schafft ein Gefühl für individuelle Tragödien, die nicht durchs Visuelle geprägt sind, sondern durch Verhältnisse, Spannungen, Energieverschiebungen und Differenzen, durch die Domänen der Sprache und der Kunst. Hier kann man begreifen, daß das Gedicht von der Rose nicht gilt: Der Rhein ist nicht der Nil ist kein Rinnsal. Die Dingwelt lebt – und zwar gerade in ihrer höchst vergänglichen Einmaligkeit.

Matthias Hagedorn

»Vignetten«, Novelle von A.J. Weigoni, Edition Das Labor, Mülheim 2009 – Limitierte und handsignierte Ausgabe als Hardcover

Hörprobe auf«: http://www.hoerspielprojekt.de/MetaPhone/

Die Aufnahme ist in HiFi-Stereo-Qualität erhältlich über: info@tonstudio-an-der-ruhr.de

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01.11.2009: | |

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