Prokrastination: die Aufschieberitis

Jeder Mensch schiebt bestimmte Dinge vor sich her: die Steuererklärung, die Einladung der ungeliebten Schwiegermutter, die Seminar- oder Abschlussarbeit oder die Entscheidung für die neue Schrankwand. Das ist normal und wenn es im Rahmen bleibt auch nicht tragisch. Wenn aber das Aufschieben das Leben maßgeblich beeinflusst und beeinträchtigt, spricht man von Prokrastination. Das Internet-Gesundheitsportal www.imedo.de berichtet über die „Aufschieberitis“.

Es ist nicht einfach, eine Grenze zu ziehen zwischen einem „normalen“ Aufschieben unangenehmer Pflichten und dem Krankheitsbild Prokrastination. Der entscheidende Unterschied ist wohl, dass jemand, der nicht an Prokrastination, umgangssprachlich auch Aufschieberitis genannt, leidet, sich mit Selbstdisziplin in den Griff bekommen kann, wenn es notwendig ist. Ein chronischer Aufschieber kann das nicht mehr.

TV-Moderator, Journalist und DJ Markus Kavka ist so jemand. In seiner Kolumne „Zünder“ bei der Online-Ausgabe der „Zeit“ verarbeitete er seine Krankheit auf witzige Weise. Doch er gibt auch so zu, dass ihn sein Aufschieben schon viel Geld gekostet und er auch Nachteile daraus hat. In einem Beitrag über Prokrastination in der Kultursendung „polylux“ sagte Kavka: „Ich bin eben an Prokrastination erkrankt, vor langer Zeit, und mir kann niemand helfen. Ich könnte mal zum Psychologen gehen, aber das könnte ich theoretisch ja auch noch ein bisschen aufschieben. Es eilt ja nicht.“

Der Kick des Aufschiebens

Der Psychologe Hans-Werner Rückert sieht den Beginn einer krankhaften Prokrastination an dem Punkt, an dem für den Betroffenen Nachteile entstehen, die er lieber verhindern würde. Dann, so Rückert, bestehe die Gefahr, dass das Selbstwertgefühl darunter leidet und damit wiederum steige die Gefahr für depressive Verstimmungen bis hin zum Drogenmissbrauch. Er sieht den Sachverhalt, dass jemand aufschiebt, sowohl als Symptom einer depressiven Erkrankung, als auch als Erkrankung an sich. Wobei es immer einen psychologischen Hintergrund gebe, erklärt er gegenüber imedo. So kann beispielsweise persönlicher Druck in der Familie zum Aufschieben führen. Aus seiner Arbeit als Studienberater führt Rückert ein Beispiel auf: Ein junger Mann kam seit einigen Jahren mit seinem BWL-Studium nicht zum Abschluss. Dabei war er gut in seinem Fach. Bei einem persönlichen Gespräch stellte sich heraus, dass die Familie des jungen Mannes ihm einen Lebensplan aufgestellt hatte, der sich überhaupt nicht mit seinen Vorstellungen deckte. Weil er dies aber seiner Familie nicht sagen konnte oder wollte, schob er seinen Abschluss immer weiter hinaus.

Aufschieben durch inneren Abwehrmechanismus gegen bestimmte Situationen

Laut Rückert gibt es zwei verschiedene Typen von Aufschiebern: die „Kick-Aufschieber“ und die „Vermeidungsaufschieber“. Erstere genießen den Kick, den die Situationen ihnen bringen, in die sie durch das Aufschieben erst gekommen sind. Der Experte erklärt das so: „Die haben dann auch was zu erzählen. Wenn sie nach einer wilden Taxifahrt zum Flughafen den Flieger knapp verpasst haben, ist das für den Zuhörer sehr viel spannender als ein reibungsloser Start.“ Der Vermeidungsaufschieber hingegen hat innere Abwehrmechanismen gegen bestimmte Situationen entwickelt und tut alles, um diese Situationen zu vermeiden. Beiden geht es gleichermaßen um den Versuch, mit unangenehmen Gefühlen umzugehen, die in Verbindung mit dem Vorhaben stehen.

Aufschieberitis“ ist behandelbar

Doch wie findet ein Aufschieber heraus, dass er unter krankhafter Prokrastination leidet und sein Aufschieben damit über das normale Maß des völlig menschlichen Bedürfnisses, unangenehme Dinge später zu erledigen, hinausgeht? Und noch viel wichtiger: Haben Menschen wie Markus Kavka Recht, wenn sie sagen, dass niemand ihnen helfen kann? Ist Prokrastination unheilbar? Die Grundvoraussetzung ist, wie bei jeder anderen psychischen Störung, die Erkenntnis, anders zu ticken, die sogenannte „innere Stellungnahme“. „Bei einer gründlichen psychologischen Diagnostik wird ein Psychotherapeut auch diese Symptomatik entdecken“, so Rückert. Er sieht Prokrastination auch nicht zwingend als eigenes Krankheitsbild, eher als ein Kernmerkmal von Handlungsstörungen. Wer unter depressiven Verstimmungen leidet oder Ängste hat, schiebt auch immer wieder Dinge auf. Der Depressive, weil ihm der Antrieb fehlt, der Angstgestörte, weil er sich vor der Situation fürchtet. „Da es jedoch sehr verschiedene Ausprägungen des Aufschiebens gibt, gibt es auch sehr verschiedene Therapieansätze.“ Diese lassen sich am besten mit einem Psychotherapeuten erarbeiten.

Mehr Aufmerksamkeit für Prokrastination

Das Krankheitsbild der Prokrastination erfährt in den letzten Jahren in Deutschland immer mehr Aufmerksamkeit. In den USA habe es bereits in den 70er Jahren an den Universitäten T-Shirts mit der Aufschrift „I am a procrastinator“ (Ich bin ein Aufschieber) gegeben. Rückert geht auch davon aus, dass es das Phänomen des Aufschiebens wahrscheinlich schon so lange gibt, wie es Menschen gibt. In der heutigen Welt komme erschwerend hinzu, dass man den ganzen Tag im Internet Dinge finden könne, mit denen man sich ablenken kann. Bloggen, twittern, googlen, chatten - vieles ist möglich. Abgesehen davon ist auch immer etwas im Haushalt zu tun, der Schreibtisch aufzuräumen oder die Fenster zu putzen. Und viele kleine Problemchen sind auf den ersten Blick leichter zu bewältigen als ein großes Anliegen.

Sie können sich bei imedo.de mit Interessierten und Betroffenen über das Thema Prokrastination austauschen.

Erfahren Sie mehr über den ewigen Kampf gegen den inneren Schweinehund in den imedo-Gesundheitsnews.

Zudem finden Depressive durch die imedo-Gesundheitsnews Hilfe im Internet.

24.09.2009: