Unendlichkeit in der Sofaecke

Mit „Under the Radar“ zeigt Jess Curtis/Gravitiy in Berlin das Beginnen der Kunst jenseits des Normativen.

Tanz ist selbstreferenziell, die Bewegungen hat man alle schon mal gesehen, die Tänzer erfüllen nur einen vorbestimmten Bewegungskanon. Und je mehr ein Tänzer nach einem Tänzer ausieht, um so mehr ist er ein Tänzer. Man erkennt Tänzer auch im Alltag hinterm Tresen des Bioladens an ihren Bewegungen, an ihrem normativen Körper. Kunst ist woanders.

Kunst entwickelt sich aus dem Besonderen eines Menschen. Die Schönheit erstrahlt erst richtig aus dem Ungewöhnlichen, dort, wo man nicht mehr vegleicht, keine vorgeprägten und mitgebrachten Bilder danebenstellt. Wenn man einfach sehen kann, was da ist. Da ist die Freiheit in jeder Sekunde. Die Freiheit istendlich da und alles erscheint einfach, simpel, an seinem Platz. Und man denkt nicht darüber nach, was als nächstes kommt oder kommen muss, die Gegenwart schlägt einen in seinen Bann und auch man selbst ist einfach da.

Liebevoll drapiert leuchtet die Schrift „bar“ über der Bar. Die Bar ist sowohl für die Tänzerinnen und Tänzer Bezugs- und Handlungsort als auch Kontaktstelle für die Besucher, „audience“, vor Beginn und in der Pause der Tanz-Performance „Under the Radar“ von Jess Curtis/Gravity, ein loser Zusammenschluss internationaler Künstlerinnen und Künstler verschiedener Genres. Der Tanzraum ist die Bühne, „stage“, und die Band „band“ formiert sich ganz klar aus den Tänzern. Auch Tänzer träumen davon, mal in einer Band zu spielen, hier tun sie es einfach. Dem Publikum macht es mindestens soviel Spaß wie der Band.

„Under the Radar“ ist eine Performance aus Einzelelementen, die wunderbar in eine Gesamtmontage gefügt sind. Jedes Element behält dabei seine Eigenständigkeit. Die entstehende Intensität ist atemberaubend. Wenn Kaz Langley, die international bekannte körperbehinderte Performerin aus Großbritannien, auf dem Tanzboden der Schönheit ihrer Bewegungen zuschauen lässt und die anderen Tänzer nach und nach ihren Bewegungen folgen und so eine Choreografie sich entwickelt. Die Zuschauer haben Teil an einem uralten Prozess, dem Prozess, wie Bewegung entsteht. Sie spüren, dass es ein Innen und ein Außen gibt, aber keine Grenze dazwischen und wer will am Ende sagen, wo die menschliche Bewegung herkommt?

Es gibt wunderschöne Momente, sehr lustige und humorvolle Momente und sehr berührende, an die menschliche Unvollkommenheit erinnernde Momente. Das Gefangensein in seinem eigenen Körper ist unabhängig von seiner Beschaffenheit. In einer äußerst bedrückenden, vom inneren oder äußeren Krieg durchdrungenden Szene ist die italienische Tänzerin Maria Francesca Scaroni Mann oder Frau oder keines von beiden. Nach einem verzweifelten, anfallartigen Kampf wird sie, völlig erschöpft, von einer zerbrechlich wirkenden Rollstuhlfahrerin auf den Schoß genommen und in Geborgenheit gehüllt. Tänzerische Leistung ist nicht als Leistung zu bewerten, sie ist jenseits davon. Dieses Jenseits haben hier alle Tänzerinnen und Tänzer erreicht. Sie schweben unter der Decke, springen wie Spiderman die Wände entlang, kreisen in einem Pas de Deux wie in einem Karoussell, lassen Sounds und Stimmen erklingen. So führen sie die Zuschauer letztendlich dahin, wo alle sich umschauen und feststellen, dass sie sich im Wohnzimmer befunden, dass das Weltall und die Unendlichkeit in jeder Sofaecke, in jeder Krücke, in jedem Mikrofon vorhanden ist.

„Under the Radar“, Tanz-Performance von Jess Curtis/Gravity, von und mit Ulrike Bodammer, Clair Cunningham, Jess Curtis, Kaz Langley, Jörg Müller, Jami Quarrell, Maria Francesca Scaroni, Matthias Herrmann, weitere Vorstellungen am 17. – 19. + 21. – 26. November 2006, jeweils 20:30 Uhr, Dock 11, Kastanienallee 79, Tel.: 030-4481222, www.dock11-berlin.de

17.11.2006:

Über Claudia Michaela Kochsmeier

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Claudia Michaela

Nachname
Kochsmeier

Branche
Bildende Kunst