Wird der Sahel zu Europas «Vietnam»?

Europa gibt seit Jahren Milliarden aus, um die Sahelzone zu stabilisieren. Trotzdem hat sich die dortige Sicherheitslage rapide verschlechtert. Es ist höchste Zeit, ein paar kritische Fragen zu stellen, berichtete die Züricher Zeitung.

Ganz Timbuktu scheint auf den Beinen zu sein, als der "grosse Befreier", für den viele hier den französischen Präsidenten halten, endlich eintrifft. Auf der Place Centrale müssen ihm die Sicherheitskräfte mühsam einen Weg durch die feiernden Menschenmassen bahnen. Ab und zu bleibt François Hollande stehen, schüttelt Hände, winkt und lacht. «Vive la France», rufen viele. «Merci, Papa Hollande», steht auf einem Banner. Wenige Tage vorher hat die französische Armee die Islamisten aus der Wüstenstadt im Norden Malis vertrieben. Auch andernorts mussten sich die Rebellen nach monatelanger Besetzung zurückziehen. Das Ziel des französischen Militäreinsatzes scheint nah: Hollande spricht von «enormen Fortschritten». Knapp einen Monat nach dem Beginn der Militäroperation sei ein großer Teil der Arbeit getan. "Einige Wochen noch", sagt er, dann komme die Sache hier zum Abschluss, dann übernähmen die lokalen Streitkräfte, dann kehre die Stabilität zurück.

Der größte rechtsfreie Raum der Welt
Das war im Februar 2013. Aus «einigen Wochen» sind über acht Jahre geworden. Heute klingt Hollandes Siegeserklärung, die per Video ins ganze Land übertragen wurde, fast grotesk. Schritt für Schritt hat sich die Lage in Mali seither verschlechtert, und immer tiefer wurden zuerst Frankreich, dann auch Deutschland und andere europäische Staaten in den Konflikt hineingezogen. Längst hat die Sicherheitskrise auch die umliegenden Länder erfasst und eine humanitäre Notlage ausgelöst. Die Sahelzone gehört heute zu den gefährlichsten und instabilsten Regionen der Welt.

Die Abwärtsspirale, in die Mali, Burkina Faso, Niger und Tschad in den letzten Jahren gerieten, ist frappant. Allein 2020 fielen in den vier Ländern knapp 7000 Menschen der Gewalt zum Opfer – mehr als je zuvor. Die Zahl der intern Vertriebenen stieg innert zwei Jahren von 100 000 auf zuletzt 1,5 Millionen Personen. 13 Millionen sind auf Nothilfe angewiesen. 4 Millionen Kinder gehen aus Sicherheitsgründen nicht mehr zur Schule. Die Uno spricht von einem «toxischen Mix aus Instabilität, bewaffneter Gewalt, extremer Armut und Hunger».

Grund für die Notlage ist zum einen das Vorrücken islamistischer Gruppierungen. Seit Hollandes Besuch in Timbuktu sind die Terrormilizen, die in Teilen mit Al-Kaida oder dem Islamischen Staat affiliiert sind, vom Norden Malis ins Zentrum des Landes vorgerückt. Bald darauf nahm auch in den Nachbarstaaten die Zahl der jihadistischen Angriffe rapide zu. Hinzu kommt die Ausbreitung krimineller Banden und interethnischer Konflikte, die sich – getrieben etwa durch Streitigkeiten um Weide- und Ackerflächen – gewaltsam entladen. Die Sahelzone verzeichnet eine starke Zunahme der Gewalt.

Das staatliche Gewaltmonopol ist in weiten Teilen der Region längst Makulatur. Der Norden Burkina Fasos sowie die riesigen Wüstengebiete von Mali, Niger und zunehmend auch Tschad werden weitgehend von Jihadisten, Banden und lokalen Milizen kontrolliert. Wo staatliche Institutionen existieren, sind sie oft schwach und dysfunktional. Der jüngste Militärputsch in Mali – der zweite innert neun Monaten – ist ein trauriges Zeugnis dafür. Damit ist in einem Gebiet, das zwar nur achtzig Millionen Menschen beheimatet, aber grösser ist als Indien, innert weniger Jahre der ausgedehnteste rechtsfreie Raum der Welt entstanden.

Viel Aufwand, wenig Ertrag
Diese desaströse Entwicklung führt zu grossem menschlichem Leid. Und sie ist für Europa äusserst beunruhigend.

Erstens setzt jedwede europäische Migrationspolitik mit Afrika eine Kooperation mit den Sahelstaaten voraus. Wenn dort weite Gebiete in Anarchie versinken, wird die Route von Mali und Niger nach Libyen endgültig zu einem chaotischen, rechtsfreien Hotspot der Migration und des Menschenhandels. Für den Drogenschmuggel zeichnet sich diese Entwicklung bereits ab: Die Sahelroute hat im internationalen Kokainhandel jüngst deutlich an Bedeutung gewonnen.

Zweitens könnten Islamismus und Gewalt auf weitere Länder in der Region überschwappen. Es wäre ein Flächenbrand, der ganz Westafrika destabilisierte. Zudem wächst im Sahel ein jihadistischer Nachwuchs heran, der irgendwann auch in Europa aktiv werden könnte. Der Weg von Bamako ans Mittelmeer ist weniger weit, als manche glauben.

Beunruhigen müssen Europa die jüngsten Entwicklungen aber auch deshalb, weil sie in aller Klarheit aufzeigen, wie wirkungslos die erheblichen internationalen Bemühungen um eine Stabilisierung bisher blieben. Frankreich ist in der Region mit 5000 Soldaten präsent. Die deutsche Bundeswehr hat 1100 Soldaten nach Mali entsandt. Die dortige Blauhelm-Mission umfasst rund 15 000 Personen und gilt als teuerster Uno-Friedenseinsatz überhaupt.

Quelle: "Neue Züricher Zeitung"
Graphik: NZZ / urf.
Foto 2: die Sahelzone von Mali (fotovymy)
Foto 3: Am Niger in Mali (fotovymy)

"Würde Muammar al-Gaddafi noch leben, gebe es auch nicht so große Probleme in der Sahelzone", so ein Kenner der Situation.

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12.06.2021: | | | |

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