Behinderte ehemalige Heimkinder: Werden auch sie betrogen?

Sie wurden geschlagen und oft zusammengetreten,
in Angst und Schrecken versetzt, oft rund um die Uhr,
beleidigt und erniedrigt, oft im Kreis ihrer Mitschüler.
Teilweise wurde ihnen sexuelle Gewalt angetan, bis hin zu Vergewaltigungen.
Sie mussten Zwangsarbeit leisten, oft schon im Kindesalter.
Sie wurden für alles bestraft, was sadistisches Personal als bestrafenswert erachtete,
sie wurden denunziert und gegeneinander aufgehetzt,
sie wurden zur Gewalt gegen andere Kinder angestachelt,
sie wurden einfach vernachlässigt und als „unwertes Leben“ beschimpft,
und „unwertes Leben“ wurde nicht beschult.
Sie wurden als „Versuchskaninchen“ missbraucht und mussten neue Medikamente testen.
Dafür - jedoch noch nicht für ihre Rolle als Versuchstiere - sollen sie nun einen Geldbetrag erhalten, den die Geldgeber gern als „Entschädigung“ feiern. Aber es ist ein lächerlicher Geldbetrag. Eine Summe, die von den Opfern zunehmend mehr als „Schweigegeld“ betrachtet wird. Sie sollen ruhig gestellt werden, die behinderten ehemaligen Heimkinder.
Überwiegend in kirchlicher Trägerschaft befindliche Heime wurden zu Brutstätten der Gewalt, weil sie jeglicher Kontrolle entzogen waren. So konnten sie Kindheiten mit einem Streich zerstören.

Schweigegeld, mehr nicht
9.000€ Schweigegeld sollen sie bekommen, und in Rundfunk und Presse wurde verkündet: Anfang 2016 können sie Anträge stellen.
http://www.n-tv.de/ticker/Opfer-in-Behindertenheimen-erhalten-Entschaedi...
Die Geschundenen müssen nun sogar um diese lächerliche Summe bangen, denn hinter den Kulissen wird gefeilscht, wie auf einem orientalischen Basar. Zunächst verschiebt sich der Termin der Antragstellungsmöglichkeit, weil noch keine Anlaufstelle eingerichtet ist. Eingerichtet wird erst, wenn alles unter Dach und Fach ist, alle Unterschriften vorliegen. Auch sind sich die Geldzahler überhaupt nicht über die Höhe der Leistung einig.
Anfangs wurde eine Geldpauschale von 9.000€ angekündigt, die sich zusammen mit Rentenersatzleistungen bei einer Arbeitszeit bis zu 2 Jahren auf 12.000€ und ab 2 Jahren auf 14.000€ erhöhen soll. Schon diese Ungleichbehandlung und damit Diskriminierung der behinderten Opfer und jener, die in Psychiatrien einkaserniert wurden, stößt auf Empörung. Die Heimopfer aus dem Bereich „Erziehungshilfe“ erhielten nämlich 10.000€ und bis zu 25.000€ für Rentenersatzleistungen.
Selbst um diese Summe von maximal 14.000€ wird geschachert. In einem Wortprotokoll der Anhörung vom 11. Februar 2016 werden drei Varianten diskutiert. Sie alle haben das Ziel, die Leistungshöhe zu drücken: „Nach der 3. Variante sollte die Geldpauschale 5.000€ betragen.“ Und weiter im Protokoll: „Zusätzlich sollten 2.000€ als individuelle Leistung zur Milderung einer andauernden [Hervorhebung jeweils durch Autor dieser Pressemitteilung] Belastung erfolgen.“ Das läßt weiten Interpretations- und Handlungsspielraum zu. In einem „Spitzengespräch zwischen hochrangigen Vertretern der Kirchen, des Bundes und der Länder“ wurden scheinbar unmerkliche Änderungen abgesprochen: „Danach sollen als Anerkennungsleistungen weiterhin eine Geldpauschale zur Milderung einer heute noch andauernden Belastung und eine Rentenersatzleistung für in erheblichem Umfang geleistete Arbeit gezahlt werden, ...“
Die Finanzministerkonferenz der Länder baut einen weiteren Bremsklotz ein: „Danach sollen konkrete Sachleistungen wie bei den Fonds 'Heimerziehung' erbracht werden. ...“ Der maximale Gesamtbetrag der Hilfen soll bei 10.000€ liegen. Und weiter: „Insoweit wäre sowohl die Sachleistung als auch die Rentenersatzleistung maximal auf je 5.000€ zu begrenzen.“ Allerdings sei der Abstimmungsprozess zu diesen Alternativen noch nicht abgeschlossen.

Klaus Dickneite ist Sprecher der „Freien Arbeitsgruppe JHH 2006“. Dieser Kreis vertritt nicht nur die Interessen der Opfer des „Johanna-Helenen-Heim“ der Orthopädischen Anstalten Volmarstein bei Hagen. Er versteht sich auch als „Sprachrohr der Sprachlosen, all jener, die sich nicht artikulieren können“. Dickneite war bei der Anhörung dabei und ist empört. Er bemängelt, dass es nun insgesamt nur 10.000€ geben könnte und spricht die Fallstricke an: „Nur diejenigen, die heute noch in einer Form betroffen sind, also die in irgendeiner Form noch Therapien oder Heilmaßnahmen benötigen, die bekommen Geld. Und alle anderen gucken in die Röhre.“ Er resümiert: „Ich finde, das hat mit Anerkennung überhaupt nichts zu tun. Ich finde es einfach beschämend und einen Skandal.“ Dickneite fordert: „Entweder streichen Sie endlich den Begriff 'Anerkennung' und stehen dazu … oder Sie wollen das [Anerkennung] und dann stehen Sie bitte auch entsprechend dazu, zu handeln und uns hier nicht vorzugaukeln, dass das beides zusammenpasst.“
Der Sprecher der Behinderteneinrichtung „Wittekindshof“ spricht von einer dreifachen Diskriminierung: „Die Menschen sind erstmal aus verschiedensten Gründen, die in den seltensten Fällen stichhaltig waren, überhaupt in solche Einrichtungen gekommen, haben dort in solchen Einrichtungen zu vielen Teilen Schlimmes erleben müssen. Erste Diskriminierung. Zweite Diskriminierung: Sie haben nicht partizipieren können aus dem ersten Fonds. … Das war die zweite Diskriminierung und dies wäre jetzt deutlich die dritte Diskriminierung, wenn so eine Lösung kommt, wo sich die beiden Fonds-Formen deutlich unterscheiden.“ Er kommt zu dem Urteil: „Also ich glaube nicht, dass das rechtlicher Prüfung standhält.“

Angeblich vereinfachtes Antragsverfahren
Es klang so schön: Es sollte ein vereinfachtes Antragsverfahren stattfinden, in dem lediglich die Glaubwürdigkeit der Erlebnisse dargestellt werden muss. Für die Opfer von Volmarstein und anderen Behinderten-Einrichtungen hätten die Verweise auf die Bücher des Forscherduos Dr. Ulrike Winkler und Prof. Dr. Hans-Walter Schmuhl gereicht. Was sie ermittelten, lässt sich auf andere Opfer, die nicht zu Wort kommen konnten, weil sie beispielsweise gar nicht artikulationsfähig sind, übertragen. Nur wenige Kinder haben gar keine Gewalt erfahren, beispielsweise die „Lieblinge“ des Personals.
Nun soll es jedoch anders kommen. Ein Vertreter des Landes Schleswig-Holstein stellt das Konzept vor: „Die Anlauf- und Beratungsstellen sollen ein persönliches Gespräch zur individuellen Aufarbeitung anbieten …“ Ob diese Beratungsstellen überhaupt das entsprechend psychologisch geschulte Personal dafür einsetzen, ist noch unklar. Es wird nicht kostenlos arbeiten. Außerdem werden in vielen Fällen mehrere persönliche Gespräche notwendig sein. Wir meinen: Es gilt unbedingt, Retraumatisierungen zu verhindern. Und weiter: „Die Anlauf- und Beratungsstellen leiten, wenn sie die Glaubhaftmachung bejahen, im zweiten Schritt die Anmeldung an die Geschäftsstelle weiter, die beim BMAS [Bundesministerium für Arbeit und Soziales] angesiedelt ist und die Verwaltung des Stiftungsvermögens übernehmen wird.“ Weiter: „Die Geschäftsstelle übernimmt nach Prüfung der Anmeldung auf Schlüssigkeit und Vollständigkeit die Auszahlung der Unterstützungsleistung.“
Im Klartext heißt dies: Zunächst werden die Opfer per se verdächtigt, zu lügen. In denselben Topf, nunmehr als Lügenübermittler, fallen auch leicht die Forscher, denn ob die Opfer denen die Wahrheit gesagt haben, sei wohl nicht überprüfbar. Also müssen die Opfer noch einmal vor fremden Menschen „ihre Hose fallen lassen“. Damit fallen die meisten Anspruchsberechtigten aus. B. S. aus Dortmund, mehrfach sexueller Gewalt ausgeliefert gewesen: „Noch einmal sage ich garantiert nicht aus.“ Wegfallen werden auch all jene, die geistig- oder sprachbehinderungsbedingt kaum oder nicht in der Lage sind, über ihre Erlebnisse Auskunft zu geben. So ist es nicht verwunderlich, dass die Stiftungs-Einzahler von 9.000 Antragsstellern ausgehen. http://www.n-tv.de/ticker/Opfer-in-Behindertenheimen-erhalten-Entschaedi...

Retraumatisierungen
Was S. aus Dortmund befürchtet, sind Retraumatisierungen. Während des Gespräches werden Trigger ausgelöst. Laut Dipl. Psychologe und Kriminologe Dierk Schäfer, Bad Boll, sind Trigger „die Auslösereize, die das Individuum völlig unerwartet in die Angstsituation der ursprünglichen Traumatisierung zurückversetzen. Selbst nach einer prinzipiell erfolgreichen Traumatherapie bleibt die Dynamik von Triggern in vielen Fällen erhalten. Wir haben es also mit einer gestuften Störung zu tun. Während manche Personen die erste Stufe, die auf die Belastung folgende Reaktion ohne Therapie (Spontanremission) überstehen bzw. durch eine Traumatherapie eine völlige Heilung erfahren, so bleiben die anderen durch Retraumatisierungen dauerhaft gefährdet.“
Dieser Prozeß der Konfrontation mit der Vergangenheit ist nicht folgenlos. Schlafstörungen, Schweißausbrüche, Suizidgedanken, Selbstvorwürfe, aber auch verstärkte Anfälligkeit für Krankheiten, die durch die dauernde Belastung der Psyche mit den Ereignissen ausgelöst werden können, erschweren das Leben nach dieser erneuten Konfrontation und es bedarf in vielen Fällen neuer psychotherapeutischer Behandlungseinheiten.

Leistungen nur bei heute noch andauernden Belastungen
In einigen Absätzen folgt immer wieder der Verweis auf die Notwendigkeit der Überprüfung der Plausibilität und Glaubhaftmachung: „Notwendig ist ein schlüssiger Bericht über die Erlebnisse und die heute noch andauernde Belastung.“. Hier klingt also immer wieder das Misstrauen den Opfern gegenüber durch, und Leistungen soll nur der erhalten, der nachweist, „heute noch andauernde Belastung“ zu haben. Das wird noch einmal im Zusammenhang mit den angebotenen Leistungen betont: „Die Unterstützungsleistung der Stiftung sollen eine andauernde Belastung abmildern und zur Verbesserung der heutigen Lebenssituation Betroffener beitragen.“
Hier weist Klaus Dickneite von der FAG auf einen Widerspruch hin. So sei darauf hingewiesen, dass die Anerkennung des erlittenen Leides wichtig ist. Jedoch: „Mit dem, was Sie heute vortragen, tun Sie das nicht. Sondern Sie sagen: Wir erkennen nur das Leid an, was heute noch besteht, d.h. wer heute noch leidet, der bekommt was, wer gelitten hat, aber nicht mehr leidet, scheinbar nicht mehr leidet, der guckt in die Röhre.“ Dickneite weiter: „Ich finde, dass es wirklich eine beschämende Haltung den Menschen gegenüber ist, die wirklich gelitten haben und sich angestrengt haben, sich irgendwie durchs Leben zu wurschteln, irgendwie durchzukommen …“
Die meisten Opfer haben sich mit der Vergangenheit arrangiert, sie verdrängt oder durch psychotherapeutische Maßnahmen längst mit der Aufarbeitung begonnen. Sie fühlen sich heute wohl kaum noch belastet. Also fallen sie als Antragssteller aus. Außerdem können einige Opfer behinderungsbedingt gar nicht ausdrücken, inwieweit sie sich noch belastet fühlen.

Lenkungsausschuss, Fachbeirat und die Entmachtung der Opfervertreter
Der Vertreter des Landes Schleswig-Holstein dazu: „Auf Bundesebene wird ein überregionaler Fachbeirat eingerichtet, der den Lenkungsausschuss unterstützen soll. Der Fachbeirat entsendet Vertreter in den Lenkungsausschuss. Der Lenkungsausschuss fungiert als das oberste Steuerungs- und Kontrollgremium.“. Zur Zusammensetzung: Er besteht aus Vertreter/-innen der Einrichtung der Stiftung (Bund, Länder und Kirchen), sowie den Vertreter/-innen des Fachbeirats.

Entmachtung der Heimopfer
„Das Vorschlagsrecht für die Mitglieder des Fachbeirats üben die Errichter, d.h. die Länder, die Kirchen und der Bund aus. Die Berufung und Abberufung der Mitglieder erfolgt durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales.“
Das heißt im Klartext: Zum einen dürfen die Opfervertreter keine Vorschläge einbringen. Zum anderen entscheidet das Bundesministerium, wer von den Opfervertretern überhaupt in den Fachbeirat gelangt. Vorschläge der einzelnen Opferinitiativen können sowohl berücksichtigt, als auch schlichtweg ignoriert werden.

Zwei Kommentare zu diesem Wortprotokoll:
Erstens: „Sie werden ... noch weitere Kürzungen akzeptieren müssen.“
Zweitens: „Das ganze Ding ist einfach nur krank und, wie Du schreibst: Ein weiterer Betrug an den Ehemaligen. Dass es jetzt die Behinderten und Psychiatrisierten trifft, ist besonders schmerzhaft, finde ich.“

Der „Runde Tisch Heimerziehung“ (RTH) war erwiesenermaßen und mehrfach analysiert und dokumentiert eine Farce. Zuviel wurden Fakten unterschlagen, Begriffe gebeugt, überforderte Opfervertreter „eingeseift“, schon darum, weil sie einer großen Zahl Juristen gegenübersaßen. Zuletzt wurden einige von ihnen zur Unterschrift unter das Abschlussdokument erpresst. Das alles diente dem Ziel der Schadensminimierung.
Wenn nach dem vorliegenden Wortdokument nicht viele positive Veränderungen durchgedrückt werden, verkommen auch diese Gremien zu reinen Schadensminimierern, ohne wirkliche Anerkennung der Verbrechen und der damit verbundenen Umsetzung im Rahmen einer wirklichen Entschädigung. Schlimmer und damit noch skandalöser: Die Wehrlosen werden noch schlechter gestellt als die Opfer aus dem Bereich der Erziehungshilfe. Könnte es einen logischen Grund für die schlechtere Behandlung und für die erheblichen bisherigen und weiter zu erwartenden Zeitverzögerungen geben? Außer dem Wunsch nach Zahlungsvermeidung sehen wir keinen. Die biologische Uhr ist für die Verpflichteten ja auch so bequem. Moral seitens der Geldgeber ist in diesem Wortprotokoll nicht zu erkennen. Man darf gespannt sein, wie sich die Kirchen, die per Amtsauftrag auf der Seite der „geringsten Brüder“ (Mt 25, 31-46) stehen sollten, verhalten. Schließlich wurden sie auch zu Mittätern, weil sie weggeschaut haben.

Helmut Jacob
15.11.2016

AnhangGröße
161013_abgestimmtes Wortprotokoll_2. Anhörung.pdf329.62 KB
15.11.2016: