Warum Oktoberfest? Antworten der Wissenschaft. Der Freiburger Wissenschaftler Dr. Sacha Szabo entwirft eine Soziologie der Wiesn

Zur Zeit gibt die Weltlage wenig Anlässe zum Feiern: Gefühlt herrschen Krise, Krieg und Terror. Trotzdem feiern wir und das ist auch richtig so, sagt der Soziologe Sacha Szabo aus Freiburg, der in seinem Buch „Sozioanalyse des Alltags“ auch das Oktoberfest untersuchte. .

Frage: Warum sind Feste so wichtig für die Menschen?

Sacha Szabo: Feste und Feiern sind eine Auszeit vom Alltag. In so gut wie allen Kulturen gibt es Feste. Was ein Fest auszeichnet ist, dass während man es feiert all die existentiellen Sorgen, aber auch die alltäglichen Sorgen, Gesundheit, Geld, Politik, Krieg vergessen sind. Es wird oft als eine Flucht aus der Wirklichkeit beschrieben. Aber tatsächlich ist der feiernde Mensch einer, der seiner eigentlichen Natur sehr nahe kommt, da er nämlich beim Feiern ganz bei sich ist, in dem Sinne als dass er sich selbst vergisst.

Frage: Das gilt ganz allgemein für Feste, aber was zeichnet das Oktoberfest als größtes Volksfest der aus?

Sacha Szabo: Das Erfolgskonzept des Oktoberfestes liegt in der Anziehungskraft seiner Masse. Das vereinzelte Ich geht in einem rauschhaften Wir auf. Dieser Prozess wird durch Alkohol, Tanzen und Singen in Gang gesetzt und steigert sich auf einen orgiastischen Höhepunkt hin, der mit „Oans, Zwoa, Gsuffa“ intoniert wird. Da alle Normen und Regeln des Alltags an diesem außeralltäglichen Ort außer Kraft gesetzt sind, wird hier ein Jenseits des Alltags geschaffen.

Frage: Das Oktoberfest, so hat man den Eindruck wir immer mehr zu einem Event.

Der aktuelle Boom der Wiesn ist ein Reflex auf die Modernisierung. Hier gibt es direkte Aspekte. Die Globalisierung führt zu einem aufgreifen von eigenen Traditionen. Dass dies ausgerechnet die oberbayerische Tradition ist zeigt, dass es ein spielerischer Umgang mit der eigenen Identität ist.
Die Modernisierung bewirkt auch eine Veränderung der Lebensverhältnisse. Viele der traditionellen Strukturen in denen Gemeinschaft erlebbar werden, – man denke da an die Vereine oder sogar die Kirchen - verlieren an Attraktivität und sind langsam am Aussterben. Gleichwohl hat der Mensch – so wie es scheint – auch ein Bedürfnis nach Gemeinschaft, nach einem Wir. Wie dies in dem Trinklied: Die Hände zum Himmel deutlich wird: „Und dann die Hände zum Himmel - Komm lasst uns fröhlich sein - Wir klatschen zusammen und keiner ist allein“. Der Alkohol wirkt dabei zusätzlich als Katalysator um eine Gemeinschaft zu erzeugen.

Frage: Welche Rollen spielen die Dirndl und die Trachten?

Dieser Trend reagiert auf die Veränderung des Geschlechterverhältnisses, also der zunehmenden Auflösung der Geschlechterdichotomie. Der Trend hin zu Unisex führt als Reflex dazu, nochmal spielerisch die traditionellen Geschlechterrollen einzunehmen und Weiblichkeit im Dirndl und als Korrespondenz Männlichkeit in der Lederhose zu inszenieren. Gerade die Verkleidung erlaubt es für einen kurzen Moment in eine andere Rolle zu schlüpfen.
Diese Reflexe auf die Modernisierung sind allerdings ganz bewusst inszeniert und sind eher ein Spiel mit Traditionen. Dies wird auch deutlich, als dass einerseits die Dirndl eher Verkleidungen sind und auf Authentizität häufig wenig wert gelegt wird und natürlich auch als dass jetzt das Oktoberfest ein Event geworden ist, der auch an völlig anderen Orten reinszeniert wird.

Frage: Wie erklären Sie sich, dass eine bayerische Tradition auch im Ausland einen solchen Erfolg feiert?

Sacha Szabo: Dass die bayerische Kultur als metonymisch für Deutschland angesehen wird, hat mit der Nachkriegszeit zu tun. Einerseits spielt hier der Heimatfilm für das bayerische Selbstverständnis eine wichtige Rolle, als dass eine ländliche-bäuerliche Kultur gegenüber dem preußischen Militarismus aufgewertet wurde. Diese Unmittelbarkeit des ländlichen Lebens und Feierns wurde von den Amerikanern, die als Besatzungsmacht in Bayern stationiert waren, in die ganze Welt exportiert. Beim Oktoberfest zeigt sich das alte Ego der deutschen Kultur. Es zeigt, dass die Deutschen nicht nur diszipliniert und arrogant sein müssen, sondern sich auch jovial mit Fremdem feiern und verbrüdern können.

Frage: Geht es nicht nur ums saufen und verkleiden, dann wäre das Oktoberfest im Ausland eine Art Karneval im Herbst?

Sacha Szabo: Der Rausch und die Verkleidung spielen bei vielen Festen in den unterschiedlichsten Kulturen eine zentrale Rolle, das wertet ein Fest auch gar nicht ab, sondern eher auf. Die Verkleidung erlaubt es für einen kurzen Moment in eine andere Rolle zu schlüpfen und der Alkohol senkt die Hemmschwellen, so dass man für einen Moment eine Auszeit von der Normalität erlebt. Natürlich steht heute auch immer die Frage nach dem Original im Raum und so werden die Oktoberfeste im Ausland selbstverständlich an der originalen Wiesn gemessen. Aber die Wiesn selbst ist ein Event, der nach bestimmten Gesichtspunkten orchestriert ist, insofern kann man für die anderen Oktoberfeste vom Volksfest im Zeitalter seiner erlebnisgastronomischen Reproduzierbarkeit sprechen.

Vielen Dank für das Gespräch!

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Sacha Szabo promovierte über Attraktionen auf Festplätzen und erforschte dabei den Reiz, der von Fahrgäschäften wie der Achterbahn oder dem Riesenrad ausging. Seine Forschung zeigte, dass diese Maschinen eine Art Wurmloch in ein Jenseits des Alltags eröffnen, in dem die alltäglichen Sorgen für einen kurzen Moment vergessen werden. Er gilt als einer der führenden Festforscher und hat eine Reihe von einschlägigen Publikationen veröffentlicht. So hat er 2011 über den Lost Place Plänterpark in Berlin ein Buch herausgegeben und im Jahr darauf eine Studie zum Ballermann. 2015 erschien mit Sozioanalyse des Alltags eine Arbeit, die die Verbindung zwischen außeralltäglichen Sensationen und den alltäglichen Phänomenen aufzeigt.