Stirbt der Stammtisch aus? Eine Tradition im Wandel.

Manchmal findet man ihn noch in Landgasthöfen, den Stammtisch. Ein besonders großer Tisch, häufig mit einem großen Aschenbecher, der ein Schild mit der Aufschrift „Stammtisch“ trägt. Aber immer weniger Stammgäste finden sich an diesem Tisch ein. So langsam verschwindet er aus den Gaststätten. Gleichzeitig entstehen in vielen Städten immer neue themenzentrierte Stammtische, wo sich Gleichgesinnte zum Austausch treffen. Wir sprachen mit dem Freiburger Kultursoziologen Sacha Szabo über diesen Wandel.

Frage: Welche gesellschaftlichen Veränderungen sind hauptsächlich dafür verantwortlich, dass der Stammtisch - im traditionellen Sinne - vom Aussterben bedroht ist?

Sacha Szabo: Der traditionelle ländliche Stammtisch in der „Beiz´“ ist im Aussterben begriffen. Gründe dafür sind gesellschaftliche Entwicklungen, die man mit dem Begriff Mobilität zusammenfassen kann. Es gibt auch eine Orientierung hin zur Stadt, die mit der Mobilität zu tun hat. Die berufliche Mobilität verändert die Arbeitszeiten, die vormals starr, jetzt flexibel und damit einem regelmäßigen Treffen abträglich sind. Aber vor allem sind traditionelle Strukturen im Wandel. Der Stammtisch war eine Art informeller Gemeinderat. Viele Geschehnisse im Dorf wurden am Stammtisch besprochen und nicht selten auch entschieden. Es war eine freiwillige Veranstaltung, gleichzeitig war diese aber auch verbindlich, der häufig auch die Dorfhonoratioren angehörten. Aber diese dörfliche Gemeinschaft verändert sich. Die vormals eher abgegrenzte Gemeinschaft wird durch Zuzug aufgelöst, gleichzeitig orientieren sich viele Jugendliche aus den Dörfern hin zu den Metropolen. Und natürlich verlieren Institutionen wie Vereine und vor allem die Kirche an Bedeutung. Denn ohne Gottesdienst kann es sonntags keinen Frühschoppen mehr geben.

Frage: Gibt es noch weitere Gründe?

Sacha Szabo: Daneben gibt es politische Veränderungen, wie etwa das Rauchverbot, die auch für den Bedeutungsverlust des Stammtisches verantwortlich sind. Ein Symbol dafür ist der Aschenbecher. Noch vor dreißig Jahren zeichnete sich der Stammtisch durch einen mächtigen Aschenbecher aus, den man heute nur noch als Kuriosum auf Flohmärkten findet. Dabei ist dieses Objekt kulturell hoch interessant. Häufig ist ein Bock, der auf den Alkohol Bezug nimm,t aber auch als Männlichkeitssymbol fungiert, und manchmal auch eine Rose als Schmiedearbeit zu sehen. Die Rose ist dabei das Zeichen, dass das was hier gesprochen wird, auch an diesem Ort bleibt. Es ist also das Symbol für das Informelle.

Frage: Anders gefragt: Was macht den Stammtisch für jüngere Leute heute unattraktiv?

Sacha Szabo: Am Stammtisch organisierte und synchronisierte sich die dörfliche Gemeinschaft. Durch die zunehmende Mobilität erweitert sich die Gemeinschaft, so dass man leichter gleichaltrige und noch wesentlicher gleichgesinnte findet und nicht mehr zwangsvergemeinschaftet werden muss. Es findet eine Orientierung statt hin zur Stadt und dort gibt es jetzt eine Renaissance des Stammtischs als Interessenstammtisch. Diese Interessengemeinschaften sind es auch, die dem Stammtisch jetzt als Gründerstammtisch, als Autorenstammtisch oder als Elternstammtisch eine neue Form geben.

Frage: Was hat das Aussterben der Stammtische mit einem gewandelten Männerbild zu tun?

Sacha Szabo: Die Trinkgewohnheiten verändern sich. Galt es früher als männlich viel zu trinken und sich in einer Männergemeinschaft als trinkfest auszuzeichnen ohne dabei die Kontrolle zu verlieren, so lösen sich diese männerbündischen Gemeinschaften auf. Das Burschentum, also der Status des jungen Mannes, ist nicht mehr so traditionell besetzt, er ist fast mehr Folklorismus als Folklore. Mann sein hat sich individualisiert. Die vorgegebenen Muster werden variiert und rekombiniert. So war es noch vor dreißig Jahren ein Novum wenn ein Mann einen Kinderwagen schob, heute ist dies schon eine Alltäglichkeit. Dies hat natürlich auch Einfluss auf die Dorfgemeinschaft, in der der ursprüngliche Stammtisch als Männerrunde seinen Platz hatte und jetzt diesem Wandel zum Opfer fällt.

Frage: Ist auch der Bedarf an regelmäßigem Austausch und Kommunikation über lokale und politische Themen im Verschwinden begriffen, oder sucht er sich neue Orte (z.B. Facebook, WhatsApp)?

Sacha Szabo: Viele der konkreten und auch körperlich sehr präsenten Veranstaltungen, wie die Gaststätte als Kommunikationsort, verlagern sich ins Virtuelle. So wie das Geschäftsessen zu einer Videokonferenz wird,so digitalisiert sich auch der Stammtisch und bildet neue Formen aus. Um die Jahrtausendwende hatten die Chatrooms noch viele Dutzend Mitglieder die sich beständig austauschten. Eine Form die freiwillig verbindlich war, wie der Stammtisch. Und heutzutage übernehmen Plattformen wie Facebook diese Funktion. Diese bieten dabei ein immens breites Spektrum an Kommunikationsmöglichkeiten. Von öffentlicher in einer Gruppe, zur Persönlichen auf der Pinwand, bis zur Privaten vertraulichen Nachricht. Die zeitgemäße Form des Stammtischs für die digitale Gesellschaft ist daher auch der virtuelle.

Vielen Dank für das Gespräch!