Emotion steuert Wahrheit: Semmelweis' Hygienestreit als Basis einer neuen Politikauffassung

Emotionen steuern die Etablierung von "Wahrheit". Dies ist die zentrale These in einem vom Wissenschaftsfonds FWF unterstützten Projekt, das jetzt startet. Als "Studienobjekt" dient ein Streit in der Mitte des 19. Jahrhunderts zwischen dem Wiener Gynäkologen Ignaz Semmelweis und KollegInnen über die Hygiene bei der Kindesgeburt. Wurden seine Ansichten damals als sehr fragwürdig betrachtet, gelten sie heute als Standard in jedem Krankenhaus. In welcher Form Diskurse zur Etablierung dieser "Wahrheit" durch Emotionen geprägt wurden, wird nun die Auswertung von aktueller und historischer Literatur zeigen. Ziel des Projekts ist es, eine neue Theorie der poststrukturalistischen Politikauffassung zu entwickeln.

Äußerungen schaffen Wahrheit. Das ist ein zentraler Aspekt der Diskurstheorie. Dieser basiert auf der Ansicht, dass Menschen durch Handlungen, Äußerungen und Mitteilungen Bedeutungen generieren, die bestimmte Vorstellungen schaffen. Deren Grundlage sind Machtstrukturen und Interessen, die zum Teil selbst erst durch Diskurse geschaffen werden. In welcher Form Emotionen auf solche Diskurse – und damit auf die Etablierung von Wahrheiten – wirken, wurde bei bisherigen Analysen jedoch wenig berücksichtigt. Genau das wird nun in einem Projekt des Wissenschaftsfonds FWF getan.

Wahrheit verhandeln
Die Leiterin des Projekts am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien ist Dr. Anna Durnová. Sie sagt: "Ich meine, dass Wahrheit ein Konstrukt ist, dessen Etablierung sowohl durch Diskurse als auch durch Emotionen gesteuert wird. Ursächlich dafür ist eine Art Verhandlungsverhältnis zwischen diesen beiden Ebenen. Dies werde ich anhand eines historisch gut dokumentierten Fallbeispiels analysieren – dem Streit um das Händewaschen als Hygienemaßnahme in der Mitte des 19. Jahrhunderts in Wien." Für Dr. Durnová zeigt gerade dieser Konflikt, wie die Wechselwirkung von Emotionen und Diskursen zur Manifestation von Wertvorstellungen und Glaubenshaltungen führte, die erst in der Folge die Positionen einzelner Gruppen zusammenführten.

Zentral in diesem Streit war der in Wien tätige Gynäkologe Ignaz Philipp Semmelweis (1818–1865). Seine Beobachtung, dass die Desinfektion der Hände von Ärzten zu einer signifikanten Reduktion von Kindbettfieber führte, stieß nicht nur auf Unverständnis, sondern auch auf kräftige Opposition. Zu einer Zeit, in der Pathogene wie Bakterien und Viren noch nicht entdeckt waren, fehlte die wissenschaftliche Erklärung für seine Observationen. Gleichzeitig gaben sie aber den renommierten Ärzten eine – wenn auch auf Unwissenheit beruhende – Mitschuld an der hohen Mortalität im Kindbett. Schnell wurde so aus einem wissenschaftlich-basierten Diskurs ein erbitterter Schlagabtausch. Symptomatisch für die Intensität der Diskurse ist ein Zitat von Semmelweis aus einem Brief an den damaligen Professor der Geburtshilfe an der k. k. Josephs-Academie in Wien: "Für mich gibt es kein anderes Mittel, dem Morden Einhalt zu tun, als die schonunglose Entlarvung meiner Gegner, und niemand, der das Herz auf dem rechten Fleck hat, wird mich tadeln, dass ich diese Mittel ergreife."

Vom Streit zum Standard
Trotz stark verfestigter Positionen wurde die Praxis des Händewaschens schon bald in den medizinischen Alltag übernommen und ist heute absoluter Minimalstandard. Das Wissen um dessen Effektivität gilt damit also als akzeptierte "Wahrheit". Den Weg dorthin und den Beitrag, den Emotionen in der Debatte leisteten, untersucht Dr. Durnová nun anhand historischer Quellen. Dazu zählen Semmelweis' Arbeitsprotokolle, seine Korrespondenz mit "Freund & Feind" und historische Forschungsarbeiten zu seiner Person und Karriere. Weiters werden historische sowie aktuelle Abhandlungen über Kindbettfieber, Händewaschen oder Hebammen analysiert. Ziel dieses empirischen Teils der Analyse ist es, emotionale Bindeglieder zu den Überzeugungen und Werten zu identifizieren.

Denn, so meint Dr. Durnová: "Emotionen transformieren Diskurse und nehmen somit Einfluss auf ihren Ausgang. Aktuelle politische Theorien über Wahrheit lassen dies aber unberücksichtigt. Mit diesem FWF-Projekt werde ich nun ein neues Konzept von Politik erstellen, das diese Komponente berücksichtigt. Grundlage dieses Konzepts wird sein, dass das Verhältnis von Diskurs und Emotion als Verhandlung betrachtet werden muss."

Bild und Text ab Montag, 17. Dezember 2012, ab 10.00 Uhr MEZ verfügbar unter:
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Wissenschaftlicher Kontakt:
Dr. Anna Durnová
Institut für Politikwissenschaft
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Universitätsstraße 7/2
1010 Wien
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