Jaschko ist tot – Nachruf auf ein ehemaliges Heimkind

Warten die Tätervertreter auf die biologische Lösung des Problems Heimkinder?

In Wirklichkeit heißt er Friedhelm. Sein Nachname wird an dieser Stelle, auch nach seinem Tod, nicht genannt. Denn Jaschko war Heimkind und das Wort „Heimkind“ steht wie ein Brandmal unsichtbar auf der Stirn eines jeden Heimkindes ein Leben lang eingebrannt. Solange es geheim bleibt, dass man Heimkind war, ist man geschützt in dieser Gesellschaft, geschützt vor Vorurteilen. Erst wenn es herauskommt, wenn man sich verplappert, Heimkind gewesen zu sein, dann ist nichts mehr so wie vorher. Nichts Unbefangenes mehr, nichts Gelöstes mehr, man war Heimkind und wird als solches erkannt, einsortiert und abgefertigt. Der Freundeskreis wird kleiner, weil man ja Heimkind war. Die Mitleidsschwelle wird tiefer gelegt, weil man Heimkind war und ein doch ach so armes Wesen. Die Mitleidsschwelle kann aber auch ganz hoch angehoben werden, weil man beispielsweise Heimkind in einem Erziehungsheim war. ‚Irgendwie hat er es doch verdient, im Heim gewesen zu sein. Er wird wohl Dreck am Stecken gehabt haben. Man kommt ja nicht ohne Grund ins Heim.’ Dass man durchaus völlig ohne Grund in ein Erziehungsheim eingewiesen werden kann, das ist vielen Zeitgenossen gar nicht bewusst. Heimkind ist Heimkind und jeder, der im Heim ist, ist irgendwie anders, irgendwie komisch, irgendwie fremdartig, irgendwie unangenehm.
Nun gibt es Kinder, die nur darum im Heim waren, weil sie körperbehindert oder geistig behindert sind. Das ist völlig wurscht. Mit dem Begriff „Heim“ setzt man einfach eine Institution in Verbindung, in dem Menschen abgeschottet leben, weil sie eigentlich gar nicht zur Gesellschaft gehören. Sie sind quasi die Aussätzigen der Gesellschaft, von denen es Abstand zu halten gilt. Und irgendwie ist es ja auch so: Die Heime liegen irgendwo auf dem Lande, oder, wie das Kinderheim in Volmarstein, hoch oben auf einem Hügel. Kaum ein Mensch besuchte die Kinder dort und sie selbst konnten nicht den Hügel verlassen und am Dorfleben von Volmarstein teilnehmen.
Jaschko muss sich wohl irgendwann selbst verraten haben. Letztendlich hat er keinen Fuß durch die Tür zur sogenannten Gesellschaft setzen können, - er wurde immer als „Fremdkörper“ betrachtet. Im Johanna-Helenen-Heim war er ein ruhiger, zurückhaltender Junge. Ich habe ihn in Erinnerung in einem Alter von 12, 13 Jahren. Er fiel nicht auf im Schulbetrieb, auch nicht auf der Jungenstation. Doch eine Person hatte Jaschko permanent im Fokus: die Lehrerin Gertraude Steiniger. Sie, inzwischen auch verstorben, war eine gebrechliche, körperbehinderte Frau. Sie konnte sich nur mittels eines schweren Krückstockes fortbewegen. Auf den Krückstock stützend schwang sie sich von einer Seite zur anderen, um ihre schweren, stahlschienenumgebenen Beine vorzubewegen. Steiniger muss Jaschko gehasst haben, denn ihre Wutausbrüche waren unvorstellbar. Einmal schlug sie so auf ihn ein, mit ihrem schweren Krückstock, dass dieser im Kreuz von Jaschko zerbrach. Es war kein Wanderstock, der schon mal in die Brüche gehen kann. So staunten wir, dass er nach diesem Schlag in der Hälfte gebrochen war. Auch sonst hatte Jaschko nichts zu lachen. Wenn Steiniger keine Lust hatte, ihn mit dem Stock zusammenzuschlagen, haute sie ihm ihre schwere rechte Pranke von der Größe einer Männerhand links und rechts ins Gesicht. Entdeckte sie vermeintliche Schmutzspuren unter Jaschkos Fingernägeln, schlug sie mit der Rundung ihres Krückstocks seine Finger grün und blau. Nein, Gertraude Steiniger konnte ihn nicht leiden; warum, ist nicht nachzuvollziehen, denn eigentlich war Jaschko ein unauffälliger Junge. Die meisten Schulstunden verbrachte er in der Ecke, rechts neben der Tafel. Nach seiner Schulausbildung, die gar keine war, verlor sich über ein Jahrzehnt Jaschkos Spur.
Plötzlich stand er wieder vor mir. Ich war in der Jugend- und Freizeitarbeit für behinderte Menschen tätig. Er hatte sich bis zu meinem Büro vorgefragt. Ich sah ihn in einem zerlumpten Lodenmantel. Er erzählte, er sei fünf Jahre bei der Fremdenlegion in Frankreich gewesen. Auch dort sei er misshandelt worden. Er habe Kameradschaft gesucht, Gruppenzugehörigkeit und menschliche Wärme, sie aber dort nicht gefunden. Eine Ausbildung habe er nach seiner Schulzeit nicht gemacht, weil er eh nichts gelernt habe. Und insgesamt schlüge er sich mehr recht als schlecht, auf jeden Fall arm, durchs Leben.
Jahre später traf ich ihn bei der Heilsarmee in Dortmund an. Ob er dazu gehörte, konnte ich nicht ausmachen. Er trug immer noch diesen zerschlissenen Mantel, nicht diese Uniform, wie sie bei Mitgliedern der Heilsarmee zu sehen ist. Jaschko freute sich aufrichtig, mich zu sehen, aber ich erkannte auch: es ging ihm nicht gut. Wir haben lange miteinander geplaudert. Immer wenn das Thema Johanna-Helenen-Heim von mir ins Gespräch eingebracht wurde, blockte er ab. Damit wollte er nicht mehr konfrontiert werden. Die Zeit muss ihm zugesetzt, sein gesamtes Leben danach geprägt und in Unordnung gebracht haben.
Bis etwa 2007 hörten wir nichts von Jaschko. Im Rahmen der Aufarbeitung der Verbrechen an den Kindern im Johanna-Helenen-Heim stellte Wolfgang, ein ehemaliger Mitschüler, Kontakte zu ihm her. Allerdings waren die sehr einseitig. Jaschko hatte keine Lust, über seine Vergangenheit zu sprechen. Vor wenigen Tagen versuchte Wolfgang es noch einmal. Es ging um sein Einverständnis zur Veröffentlichung eines Kinderbildes. Er war nicht mehr ans Telefon zu bekommen. Das Einwohnermeldeamt teilte seinem Schulkameraden Wolfgang mit, dass er verstorben sei. Das Sterbedatum wissen wir heute noch nicht.
Ob Jaschko die Entschuldigung der Evangelischen Stiftung Volmarstein für die an ihm verübten Gewaltexzesse jemals erfahren hat? Viele Opfer von Volmarstein sind arm, weil sie keine Ausbildung durchmachen konnten, weil sie jahrzehntelang traumatisiert waren und teils immer noch sind. Eine Wiedergutmachung durch die Stiftung hat er nicht erhalten. Auch aus dem Opferfonds, der auf Anregung des „Runden Tisches Heimerziehung“ (RTH) eingerichtet wurde, erhielt er keine Gelder, weil die Vorsitzende des RTH, die ehemalige Pastorin Antje Vollmer, die Aufarbeitung der Verbrechen an den behinderten Heimkindern nicht zuliess.
Die ESV hat die Zahlung einer Opferrente, wie sie die „Freie Arbeitsgruppe JHH 2006“ - ein Arbeitskreis Betroffener und ehemaliger Mitarbeiter - gefordert hat, kategorisch abgelehnt. Sie verwies statt dessen immer wieder auf den RTH. Dabei hatte Jaschko diese Opferrente bitter nötig. Und hätte das Opferentschädigungsgesetz (OEG) in der heutigen Fassung schon damals gegriffen, wäre ihm diese Opferrente bis zum Lebensende zuteil geworden. Nach seiner sadistisch und brutal zerstörten Kindheit und in dessen Folge zerstörten Jugend, nach seinem gesamten kaputten Leben, hätte ihm wenigstens ein würdevoller Lebensabend gestaltet werden müssen. Die Orthopädischen Anstalten Volmarstein haben zugelassen, dass Jaschko fast täglich von den Verbrechern Steiniger und Severin gequält wurde. Die Rechtsnachfolger dieser Einrichtung stehen nicht zu der damit verbundenen Verantwortung und Verpflichtung zur Wiedergutmachung dieser Verbrechen. Warten sie auf die biologische Lösung IHRES Problems?
Eins soll aber doch passieren: Es wird ein neues Kinderheim gegenüber dem Johanna-Helenen-Heim gebaut. Dieses Kinderheim trägt den Namen einer Frau, die als kleines Mädchen ebenso schwer gelitten hat, wie Jaschko: Marianne Behrs. Irgendwo im „Marianne-Behrs-Haus“ soll eine Gedenkwand gestaltet werden, auf der Kinderköpfe zu sehen sind. Kinderköpfe, von einem Künstler gemalt. Ohne Namen. In Erinnerung an die Zeit von Terror und Gewalt im Erdgeschoss und auf der zweiten Etage des Hauses gegenüber. So wird Jaschko ein kleines Denkmal gesetzt, wenn die ESV ihr Versprechen einhält. Und vielleicht wird dieses Denkmal jahrzehntelang erhalten bleiben, wenn nicht der Farbroller der nächsten Renovierung auch diese Spuren verwischt.

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Friedhelm genannt Jaschko.jpg14.52 KB