An der Wahrheit vorbei – Marlene Rupprecht (SPD) in einem Zwischenruf in Sachen Heimkinder

Dreißig Minuten waren vorgesehen. Fünfundvierzig Minuten jedoch dauerte der Tagesordnungspunkt 7 „Hilfe für Opfer von Misshandlungen in Heimen“ der Plenarsitzung des Bundestages am 9. Juni 2011. Beraten wurde über den interfraktionellen Antrag der Parteien und über einen eigenen Antrag der Linken. Während CDU, SPD, FDP und Grüne die Empfehlungen des „Runden Tisches Heimerziehung in den 50er und 60er Jahren“ unterstützen, fordert die Partei Die Linke eine Opferrente nach dem Willen der misshandelten Heimkinder in den drei Nachkriegsjahrzehnten.

Während der Aussprache kam es zu einem Disput, der in der Presse keine Erwähnung findet aber für die Heimopfer von besonderer Bedeutung ist. Heidrun Dittrich (Die Linke) in ihrem Wortbeitrag zu etwa 30 anwesenden Abgeordneten: „Mit 18 Vertretern der Evangelischen Kirche, der Katholischen Kirche, der staatlichen Heimträger, der Vertreter der Landesjugendämter, Bundesländern und nur drei betroffenen Heimkindern haben sie getagt. Und die Zustimmung zu ihrem Vorschlag einer freiwilligen Fondregelung anstelle eines gesetzlichen Anspruchs haben sie von den Heimkindern erpresst mit dem Ausspruch: sonst gibt es gar nichts. Das allein ist schon ein Skandal.“

Sofort meldete sich Marlene Rupprecht (SPD, Mitglied im Kinderausschuss und im Petitionsausschuss): „Die Kollegin Dittrich behauptet, dass die ehemaligen Heimkinder am Runden Tisch – sechs waren es – dass die unter Druck gesetzt wurden und erpresst wurden. Ich war Mitglied des Runden Tisches für den Petitionsausschuss. Und ich möchte hier feststellen, dass ich es nicht zugelassen hätte, dass irgend jemand erpresst wird oder unter Druck gesetzt wird. (Beifall) Meine Aufgabe am Runden Tisch war, darauf zu achten, dass die Vorgaben des Petitionsausschusses umgesetzt werden. Und egal, wer was im Nachhinein behauptet, es stimmt so nicht.“

Es stimmt allerdings genauso doch. Den drei Opfervertretern wurden drei Vertreter für den Fall von Erkrankung und sonstigen Verhinderungsgründen zugebilligt. An den Sitzungen teilnehmen konnten jeweils nur drei Opfervertreter. Zu der Erpressung der Opfervertreter finden sich nicht mehr nachzählbare Informationen in der Internetpresse und in Blogs von Heimopfern.

Rolf Breitfeld, einer der 6 Opfervertreter, im Blog von Dierk Schäfer: "frau vollmer hat auftragsgemäß die ehemaligen heimkinder verraten…. als am rth abgestimmt wurde haben sich die 3 heimkinder leider der erpressung, der rth würde sonst platzen, gebeugt. ich hätte ihn platzen lassen, ein schlechteres ergebnis hätte es dann auch nicht gegeben. als alles durchgewunken war hat frau vollmer plötzlich und unerwartet die 3 nicht stimmberechtigten vertreter auch abstimmen lassen, wohl um das ergebnis nach oben hin abzurunden. ich habe als einziger mit NEIN gestimmt. eine einstimmigkeit hat es also nicht gegeben."

"Wir kamen uns wieder einmal vor wie die Bettler", sagt Sonja Djurovic, eine der Vertreterinnen der Heimkinder. Also blieben sie draußen vor der Tür, und erst als Antje Vollmer, die Moderatorin des "Runden Tisches Heimerziehung", ihnen ins Gewissen redete, sie dürften doch nicht am vorletzten Tag der Beratungen alles kaputt machen, da setzten sie sich doch zu den anderen, zu den Vertretern des Bundes, der Länder, der Kirchen und der Wissenschaft. "Mit sehr gemischten Gefühlen", wie Sonja Djurovic sagt, "aber es ist besser, ein bisschen zu erreichen, als gar nichts zu erreichen".

Unter der Schlagzeile „Eine weitere Demütigung“ schreibt der „humanistische pressedienst“: „Letztlich jedoch stimmten die Opfervertreter am Runden Tisch „mit schlechtem Gewissen“ dem Abschlussbericht zu, was allein darauf zurückzuführen sei, „dass sie massiv unter Druck gesetzt wurden mit der vorgeblichen Behauptung, sie bekämen sonst gar nichts“: „Welche Wahl hatten sie denn? Man hatte sie genötigt, entweder den faulen Kompromiss zu akzeptieren oder aber angeblich die Verantwortung dafür zu übernehmen, dass die Mehrheit der Heimkinder am Ende finanziell völlig leer ausgeht! ...“

Jürgen Beverförden, Stellvertreter eines Heimkinder-Vertreters am Runden Tisch: es sei Druck auf sie ausgeübt worden. "Es gab die Drohung, dass wir gar nichts kriegen, wenn wir dem Abschlussbericht nicht zustimmen".

Professor Dr. Manfred Kappeler schildert die Ereignisse:
„Sie [Opfervertreter] erarbeiteten eine Stellungnahme, in der sie an den „Lösungsvorschlägen“ in diesem Entwurf scharfe Kritik übten und ihre Forderungen noch einmal bekräftigten. Da ihre Aufforderungen an die Vertreter des Bundes, der Länder, der Kirchen und ihrer Wohlfahrtsverbände, unmißverständlich und mit Zahlen zu sagen, zu welchen Entschädigungsleistungen sie bereit sind, von allen Gliedern der „Verantwortungskette“ immer zurückgewiesen wurden, sollten sie in der letzten Sitzung durch ein Verfahren wie den „Hammelsprung“ im Bundestag gezwungen werden, sich eindeutig zu erklären. Die sechs ehemaligen Heimkinder am RTH setzten sich zu Beginn der Sitzung also nicht an den Verhandlungstisch sondern blieben im Vorraum stehen. Sie überreichten ihre Stellungnahme und forderten die anderen Mitglieder des RTH auf, durch Herauskommen zu ihnen die Unterstützung ihrer Forderungen zu manifestieren. Nur zwei folgten dieser Aufforderung. Norbert Struck, der ihr gefolgt wäre, konnte, wie oben berichtet, an der Sitzung nicht teilnehmen, hatte seine Haltung zu den Forderungen der Ehemaligen durch seine schriftliche Stellungnahme aber unmißverständlich geäußert. Nach übereinstimmenden Berichten aller sechs Ehemaligen und eines weiteren Mitglieds des RTH geschah nun folgendes: Die Moderatorin und andere Mitglieder reagierten heftig mit der Drohung, eine Weigerung an der Schlußverhandlung teilzunehmen und dem Abschlußbericht zuzustimmen würde zum Scheitern des RTH führen. Einer der Ehemaligen schreibt am 15.12 in einem Brief:“Als wir sechs Heimkinder am Runden Tisch (alle waren stimmberechtigt) auszogen, um unseren Unmut über den vorliegenden vorläufigen Schlussbericht zu dokumentieren, wurden wir dringend aufgefordert den RT nicht platzen zu lassen. Man machte uns klar, dass ein Scheitern des RT bedeuten würde, dass es überhaupt keine Entschädigung und keine Berichte an den Bundestag und die Bundesländer gäbe“. In dieser Situation wurden zum ersten Mal die 120 Millionen für die Fonds in Aussicht gestellt, die bei einer Verweigerung der Zustimmung zu einem AB verloren gehen würden. Ein Mitglied des RTH - kein ehemaliges Heimkind – berichtete am Abend des ersten Verhandlungstages, es sei eine „moralisch-autoritäre Drohkulisse“ gegen die ehemaligen Heimkinder hergestellt worden, der sie nicht standhalte konnten. Zwei der Ehemaligen am RTH sagten mir, sie seien mit der Drohung es gäbe weder Rehabilitation noch irgendeine Entschädigung, an den Verhandlungstisch gezwungen worden.“

So trifft denn auch der Diplom-Theologe und Diplom-Psychologe Dierk Schäfer aus Bad Boll die Stimmung der Heimopfer zum Zwischenruf von Marlene Rupprecht: „Frau Rupprecht lügt, wenn sie sagt: „Und ich möchte hier feststellen, dass ich es nicht zugelassen hätte, dass irgend jemand erpresst wird oder unter Druck gesetzt wird.“ und dann davon spricht, es wären sechs ehemaligen Heimkinder am Runden Tisch beteiligt gewesen, aber verschweigt, daß nur drei zugestimmt haben, weil man keine einheitliche Zustimmung auch der drei nicht-stimmberechtigten Beisitzer herbeinötigen konnte.“

Heidrun Dittrich (Die Linke) hat übrigens die Ablehnung der Arbeit und der Empfehlungen des Runden Tisches seitens der Heimopfer exakt wiedergegeben. In zwei Abstimmungen haben sie ihren Protest geltend gemacht. In seinem Blogeintrag „Zwei Abstimmungen - Heimopfer lehnen Ergebnis des Runden Tisches Heimerziehung ab“ hat Helmut Jacob die Ergebnisse der Abstimmungen zusammengefasst. Der „Verein ehemaliger Heimkinder“: „89,1% der 888 gültigen Stimmen ehemaliger Heimkinder und immer noch 68,3 % der Nicht-Heimkinder lehnen diese Entschädigung von maximal 4.000€ als unangemessen ab.“

Plenarsitzung am 9.06.2011, TOP 7: http://www.bundestag.de/Mediathek/index.jsp?isLinkCallPlenar=1&categorie...
Opfervertreter Rolf Breitfeld zum Thema Erpressung: http://dierkschaefer.wordpress.com/2010/12/20/%C2%BBdie-heimkinder-haben...
Opfervertreterin Sonja Djurovic: http://www.wdr5.de/sendungen/morgenecho/s/d/11.12.2010-06.05/b/ringen-um...
Humanistischer pressedienst: http://hpd.de/node/10868
Jürgen Beverförden: http://www.ksta.de/html/artikel/1292251097758.shtml
Siehe auch: „Pressespiegel“ der „Freien Arbeitsgruppe JHH 2006“: http://www.gewalt-im-jhh.de/hp2/Runder_Tisch_Heimkinder__Vollm/Pressespi...
Prof. Manfred Kappeler zum Abschlussbericht des „Runden Tisches Heimerziehung“: http://www.gewalt-im-jhh.de/hp2/Aktuelles/Abschlussbericht_RTH.doc
Dierk Schäfer: „Frau Rupprecht (MdB) lügt, ...“: http://dierkschaefer.wordpress.com/2011/06/10/frau-rupprecht-mdb-lugt-%E...
Abstimmungen der Heimopfer: http://helmutjacob.over-blog.de/article-zwei-abstimmungen-heimopfer-lehn...