Russisch Roulette

Die Moskauer U-Bahn. Stickig. Heiß. Vollkommen überfüllt. Laut. Viel zu laut. Diese Kommunikationsstrudel schienen sich gerade heute Morgen zu einem tosenden Orkan von Stimmen zu entwickeln. Telefongespräche, klingelnde Handy, Dialoge – außergewöhnlich laut. Viel zu wenige Menschen saßen einfach nur da oder lasen in Ruhe den Wirtschaftsteil der Moskauer Tageszeitungen. Demetri stand als Beobachter in Abteil 3, von den Menschenmassen fast an die zum Tunnel gelegene U-Bahn Tür gepresst. Er dachte über die letzte Nacht nach, als er mit seinen Freunden eine weiteres Mal durch die Moskauer Innenstadt zog. Sie waren weder gewalttätig noch anderweitig verhaltensauffällig, durchschnittliche Moskauer BWL-Studenten, die auf der Suche nach der einen, der goldenen Idee waren. Jeden Abend, jede Nacht. Es war in seiner Alltäglichkeit schon fast wieder zur bloßen, langweiligen Routine geworden – dieses Rumstreuen, das Abhängen an belebten Plätzen, das Beobachten der Passanten und Moskoviter Geschäftsleute, die nach Feierabend in die Szene-Bars der Stadt pilgerten.
Vielleicht war aber auch gestern alles anders, dachte er sich als die Bahn langsam abbremste, um in die nächste Station einzufahren. Es fühlte sich auf jeden Fall alles anders an, als er heute in seinem Zimmer aufwachte. Er schlug die Augen auf, sah seine Klamotten doch recht ordentlich auf dem kleinen Holzstuhl an seinem Schreibtisch hängen und spürte einen – gemessen an seinen Alkoholkonsum gestern – nur kurz dumpf pochenden Kopfschmerz an der Stelle, die man Schläfe nennt. Nicht, dass Du morgen die letzte Vorlesung vor der entscheidenden BWL-Klausur verpasst, weil du verschläfst – das war der letzte Gedanke, bevor die Nacht ihn mit ihren dunkeln Schwingen bedeckte. Als jetzt die ersten Sonnenstrahlen seine Schläfen kitzelt, stand er auf, ging Richtung Schreibtisch und nahm seine Jeans vom Stuhl. Plötzlich ploppte es auf dem Boden ein paar Mal kurz auf, bevor das Geräusch gleichmäßiger wurde, unter seinem Bett etwas verdeckt wurde und sich dann seinen Weg gegen die Wand bahnte, dort kurz anschlug und dann ganz langsam an einer Stelle liegen blieb. Er kniete sich nieder, tastete mit seiner Hand unter seinem Bett herum, um dieses kleine rollende etwas endlich in die Hand zu bekommen. Er schaute sie an, dreht sie zwei Mal vor seinem Auge hin und her und war sofort wieder mitten im Geschehen der letzten Nacht. Er konnte das Drehgeräusch ganz deutlich vernehmen. Er stand an einem Roulette-Tisch, ein Bier in der Hand und spielte immer und immer und immer wieder die gleiche Zahl. Denn irgendwie hatte er keinerlei Lust, sich irgendwelche Gedanken um sein Spiel zu machen. Denn es ist doch ein reines Glücksspiel, eine Chance von 1 zu 37 bei jeder Runde. Und dann kann man doch entweder ständig wechseln, immer bei der gleichen Zahl bleiben oder sich dann irgendwie eine Strategie zurechtfuchsen. Zurechtfuchsen! Genau das schien ihn jetzt wirklich zu beschäftigen – denn jedes Spiel macht doch nur so lange Spaß, wie man gewinnt. Oder man gewinnt überhaupt mal. Er trank sein Bier aus, kehrte dem Tisch den Rücken und bewegte sich langsam auf einen anderen Tisch zu. Währenddessen schaute er sich im Casino um – ein sehr gut besuchtes Casino, mitten im Moskauer Szeneviertel! Und er mittendrin. Er fühlte, wie das Adrenalin sich in seinem Körper ausbreitete. Er wurde schneller und schneller. Gleichzeitig drehte sich auch in seinem Kopf alles schneller: Alles wurde eins. Die Kugeln, die Geräusche, das Reden, die Musik, alles. Er ging an die Bar, bestellte sich ein weiteres kühles Bier und ging an einen kleinen Tisch in der Ecke des Casinos, um ein weiteres Mal sein sogenanntes Glück zu versuchen. Doch dieses Mal wusste er, dass er einfach gar kein Glück mehr brauchen würde. Denn beim ersten Schluck des kalten Bieres war ihm etwas durch den Kopf gegangen, ein todsicheres Ding, der todsichere Tip, das Non-Plus-Ultra der Roulettebranche. Siegessicher setzte er sich an den Tisch und lies die Kugel rollen ... Und Leute, die sich in der Roulette-Szene auskennen, wissen ganz genau, was es bedeutet, wenn man die Roulette Kugel mit nach Hause nimmt ... Das ist ähnlich wie bei den Fußballern, die den Spielball, mit dem sie einen lupenreinen Hattrick erzielt haben, nach dem Spiel einstecken.

Demetri machte die Augen auf und bemerkte, besser gesagt hörte, dass er seine Station verpasst hatte. Träumen ist gerade beim U-Bahn fahren nicht die richtige Strategie.


Über Christian Gruber